Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
entnahm er eine Flasche Desinfektionsmittel und tränkte ein Papiertaschentuch damit. Er legte es auf die klaffende Wunde der Braue und ließ den Wirkstoff in die Tiefe der verklebten Hautschichten einwirken. Er provozierte eine neue Blutung und entschied, die Wunde selbst zu nähen. Er wusste, wie man es machte. Er zog eine steril verpackte Nadel aus einer Packung der Firma ETHILON hervor. Nach einem Fahrradunfall, zwei Jahre zuvor, musste eine tiefe Wunde an der rechten Wade genäht werden. Jerome hatte der Arbeit des Chirurgen genau zugesehen und entschied damals, die Packung Nadeln und Faden sowie den Nadelhalter einzustecken, nachdem der Chirurg ihm auf die Schulter geklopft und mit wohlmeinenden Worten das Sprechzimmer verlassen hatte. Wer weiß, wofür man es mal gebrauchen kann , hatte er gedacht und er sollte Recht behalten. Niemand hatte in der Hektik des Klinikalltags den Diebstahl bemerkt.
Nun wusch er den Nadelhalter unter Wasser und desinfizierte ihn anschließend. Er entnahm die atraumatische, gebogene Nadel, an der ein resorbierbarer Faden Gr. 6-0 befestigt war. Er würde sich binnen einiger Tage selbst auflösen. Dies ersparte ihm das schmerzhafte Entfernen der Fäden. Nun kam der schwierigere Teil: mit der rechten Hand den Nadelhalter mit der eingeklemmten Nadel führen und mit der anderen Hand die Braue zusammendrücken, ohne sich dabei im Spiegel die Sicht zu verdecken. Er besaß keine Pinzette, mit der er diesen Eingriff hätte fachmännischer leisten können. Nach ein, zwei missratenen Stichen bekam er Übung. Den Schmerz spürte er kaum. Zu geschwollen war das Gewebe. Am Ende, nach zwölf Stichen, verknotete er die Fadenenden, wie er es vom Segeln her kannte. Es hielt, das war die Hauptsache. Mit einer Nagelschere trennte er den restlichen Faden ab und betrachtete sein Werk im Spiegel. Gar nicht schlecht für einen Anfänger , dachte er. Ein bisschen schief, aber was soll’s .
Die Brust schmerzte bei jedem Atemzug und er verfluchte den alten Schöller mit jedem Heben und Senken des Brustkorbs. Aus einer Tablettenpackung entnahm er zwei Schmerztabletten und schluckte sie mit Leitungswasser. Für eine Dusche war keine Zeit mehr.
Ertrunkene duschen nicht.
Er ging ins Schlafzimmer, zog frische Sachen an, beließ den Koffer auf dem Schrank, wählte den grünen Seesack und packte einige Kleidungsstücke hinein. Immer wieder musste er sich vor Augen führen: Ich bin ertrunken und ich komme nicht zurück. Also nehme ich auch nicht alles mit . Er nahm nur die Sachen mit, von denen niemand wusste, dass er sie besaß. Vor allem Geld verschiedener Währungen, die Ausweise, sämtliche USB-Sticks und SD-Karten, sein Laptop und alle Unterlagen, die sein Lebenswerk ausmachten. Die nassen Klamotten, die er am Leib getragen hatte, stopfte er in eine Plastiktüte.
Er schob das schwere Buchregal zurück vor die Wand und ließ die Verankerung arretieren. Ohne zu wissen, wo der winzige Hebel war, konnte niemand mehr sein altes Versteck ausmachen. Und wenn, würden sie nichts mehr dort finden, was ihn verriet. Sein altes Ich war ausgelöscht. Wie oft hatte er dieses Szenario schon in Gedanken durchgespielt und entsprechende Vorbereitungen getroffen? Nun war der Zeitpunkt gekommen, Geplantes umzusetzen und sich zu verabschieden. Den Seesack auf dem Rücken, horchte er ins Treppenhaus hinein.
Es war kurz nach fünf und noch alles ruhig. Zeit zu verschwinden. Die Haustür ließ er offen stehen, so, wie er sie vorgefunden hatte. Er kramte den Wagenschlüssel hervor, öffnete den Kofferraum und legte den Seesack hinein. Die letzte Fahrt mit seinem treuen Honda, bevor er sich auch von ihm würde trennen müssen. Nachdem er alle wichtigen Sachen in seiner neuen Bleibe untergebracht hätte, wollte er den Wagen zurück vor seine Haustür stellen und ihn vergessen. Sein Konto war eh in den Miesen und schon in Kürze würde die Bank niemandem mehr Geld geben, der etwas mit ihm zu tun hatte. Sein Tod würde zu allen behördlichen Instanzen durchsickern, alle Probleme würden sich von allein lösen. Vermieter, Finanzamt, Strom- und Wasserwerk und die vielen anderen Parasiten, die sich von ihm ernährten, würden bald leer ausgehen.
Sehr praktisch, so ein Tod.
*
Am nächsten Morgen erwachte Dutroit in seiner neuen Bleibe und blickte sich verwirrt um. Er hatte Schmerzen, die Nacht war grauenhaft gewesen. Nachwirkungen von der Injektion geisterten in seinem Körper herum. Die Synapsen in seinem Gehirn spielten verrückt.
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