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Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)

Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)

Titel: Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg S. Gustmann
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Es würde eine Weile dauern, wieder normal zu funktionieren.
    Das eigentliche Problem jedoch war ein unauffälliges Leben als Toter, als toter Lebender, als Wiedergeborener zu beginnen. Das, was für andere selbstverständlich war, musste für ihn vollkommen neu erfunden werden. Eine Leiche kaufte nicht mit EC-Karten ein, nicht mit Kreditkarten, bestellte nichts im Internet, stellte keine Schecks aus, er besaß keine Krankenkasse, nur einen entwerteten Personalausweis. Ein Toter hatte keinen gültigen Führerschein und spazierte nicht in dem Park herum, in dem er sonst die Tauben mit Fußtritten verjagt hatte. Er traf keine alten Kumpels, musste neue Dealer suchen, grüßte keine Nachbarn von früher, kurz: er kannte keine Sau; wie ein Alien, ein Zugereister, ein absoluter Fremdling. Ihn selbst indes durfte niemand zu Gesicht bekommen, außer vielleicht während des teilnahmslosen Starrens auf sein Konterfei in der Zeitung, wo über seinen Selbstmord durch Sprung von der Brücke berichtet wurde. Die Bilderberger würden dafür sorgen, dass er in der Zeitung landete, ob man ihn nun fand oder nicht. Eventuell würde es noch ein Foto auf dem Kranz neben dem Grabstein geben, den irgendein rührseliger Idiot stiften würde.
    Ihn, wie man ihn von früher kannte, gab es nicht mehr, also musste ein anderer her. Jemand, in dessen Rolle er schlüpfen könnte, einen Nobody, den man nicht vermisste, wenn er verschwinden würde.
    Er hatte sich gedacht: Warum also nicht gleich mehrere? Zum Beispiel: Am Sonntag er selbst, unverkrampft und entspannt, an nichts denken, nichts beachten, einfach nur sein , das Haus jedoch nicht verlassen können. Aber dann: sechs Wochentage, sechs Identitäten, sechs Leben, die er leben könnte. Oder eines pro Monat, nach sechsen das Spiel von vorn. Oder flexibel: jeweils der geeignete Schauspieler, der für die entsprechende Szene erforderlich war. Neues Bühnenbild, neues Stück. Welch eine Vielfalt tat sich vor ihm auf? Ungeahnte Möglichkeiten boten sich ihm. Vielen Menschen würde dieser Gedanke Angst bereiten. Ihm nicht. Er genoss diese Vision: Als einer unterzutauchen und als mehrere aufzuerstehen, wie bei einem Marionettentheater. Eine Hand in sechs Puppen. Sechs Stimmen, sechs Charaktere; der eine friedlich, der andere böse, der nächste besonnen und weitsichtig, der andere wild und ungestüm, ein weiterer lustig gleich neben jenem, der melancholisch den Weltschmerz betrauerte. Sechs Figuren in einem Spiel, einem illustren Kabinettstückchen: die Bühne für ihn, die Welt das Publikum und unter ihnen seine Feinde, seine Häscher, seine Opfer.
    Das letzte große Bühnenstück. Vorbereitet war schon alles, vor langer Zeit.
    Dutroit richtete sich auf und zischte den Schmerz durch die zusammengebissenen Zähne. Er war angekommen, wo er hinwollte. Wie ein Prophet hatte er diese Zeit erwartet und auf sie hingearbeitet. Alle Vorbereitungen waren längst getroffen. Das Spiel konnte beginnen.

Kapitel 7
    Mai 2011, Lüneburg

    Die Tür fiel hinter Martin ins Schloss. Im Fahrstuhl drückte er auf ›E‹ und wartete. Beim Aussteigen sah er sich im Treppenhaus um und lauschte. Er hielt inne:
    Nichts.
    Er trat ins Freie, stockte und lugte nach links und rechts. Ja sicher, da waren Passanten. Nachbarn, Eltern jener Kinder, die ihr Spielzeug hatten liegen lassen und das nun aufgesammelt wurde. Leute, die ihn grüßten und solche, die es nicht taten. Er reagierte weder bei dem einen noch bei dem anderen.
    Dann schritt er los, stopfte die Hände tief in die Hosentaschen und fühlte den Stecker des ominösen Datenspeichers. Er ging zügiger als gewöhnlich, hastiger. Er schlug einen Weg ein, den er sonst nicht gehen würde. Nicht den direkten, sondern einen Umweg. Zwischen den Häuserzeilen hindurch, nur auf Gehwegen, wo kein Auto durchpasste, überquerte eine Wiese, vorbei an rauchenden Jugendlichen mit verwegenen Frisuren, die cool wirken sollten. Der süßliche Duft eines Joints wehte an ihm vorbei. Er ließ die Kids gewähren.
    Er war darauf bedacht, Ungewöhnliches im Augenwinkel zu erfassen. Doch was wäre gewesen, wenn ihm eben solches aufgefallen wäre? Was war ›Ungewöhnliches‹? Alles nur eine Frage der emotionalen Interpretation. Und dann? Wäre er gerannt oder zurück nach Hause gestolpert? Er wusste es nicht.
    Die Paranoia hatte begonnen, sich seiner zu bemächtigen.

    *

    Nach zehn Minuten erreichte er das Gasthaus, er ging nicht hinein. Er war zu früh. Vor Monaten hatte er aufgehört zu

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