Schattennaechte
angespannte Atmosphäre vom Morgen war verschwunden. Die Ruhe tat Leah gut. Nach ihrem Weinkrampf ging es ihr ein bisschen besser. Der Druck in ihrem Inneren hatte nachgelassen. Jetzt fühlte sie sich vor allem leer und erschöpft.
Vielleicht würde sie tun, was sie zu Maria gesagt hatte – ins Bett gehen und schlafen und darauf hoffen, dass die Welt beim Aufwachen etwas freundlicher aussah. Auch wenn ihr nach all den schrecklichen Dingen, die sie heute Morgen gesagt hatte, davor graute, ihrer Mutter unter die Augen zu treten, hatte sie jetzt vor allem das Bedürfnis, sich zu entschuldigen und so zu tun, als wäre das alles nie passiert.
Sie ging nach oben und ließ sich auf ihr Bett fallen, zu müde, ihre Reitsachen auszuziehen, nur die Clogs streifte sie ab und ließ sie auf den Boden plumpsen. In der Tasche ihrer Reithose steckten noch immer ein paar Zuckerwürfel, und an einer Gürtelschlaufe hing an einem Karabinerhaken der eiserne Hufkratzer.
Der Schmied der Gracidas hatte ihn ihr zum Säubern der Pferdehufe gegeben. Er hatte ihn selbst geschmiedet, und jeder der Pferdepfleger, die sich um die von ihm beschlagenen Pferde kümmerten, bekam einen. Lauren löste ihn von dem Haken und betrachtete ihn ein paar Augenblicke gedankenverloren.
Der dünne Eisenstab war zu einer Fünf gebogen. Der obere Balken lief in einer scharfen gebogenen Spitze aus, mit der man den Schmutz aus der Hufsohle kratzen konnte. Der Bogen lag gut in der Hand und hatte eine gewisse Hebelwirkung. Alle Pferdepfleger der Gracidas trugen ihre Hufkratzer stets griffbereit am Gürtel. In ihren Ställen verließ kein Pferd seine Box mit schmutzigen Hufen.
Leah befestigte den Hufkratzer wieder an seinem Haken.
Sie wollte schlafen. Sie wollte schlafen, aber nicht träumen. Sie wollte, dass ihre Mutter nach Hause kam. Sie wollte nicht allein sein.
Wenn Leslie nicht entführt worden wäre, dann wäre sie jetzt nicht allein, dachte sie. Selbst wenn sie nicht zusammen waren, waren sie immer füreinander da. Ganz egal, was tagsüber passierte, sie wusste, dass Leslie am Ende des Tages für sie da sein würde. Sie würden miteinander reden, und alles wäre wieder gut.
»Tut mir leid, dass ich gesagt habe, ich wollte, du wärst tot«, murmelte sie, den Blick auf das Foto auf ihrem Nachttisch gerichtet – es zeigte sie und Leslie auf einem der Pferde ihres Vaters, und er, groß und gut aussehend, stand daneben und hielt den Zügel. Leslie war damals neun Jahre alt gewesen und Leah fünf, und sie hatte gerade zwei der vorderen Milchzähne verloren. Leslie saß hinter ihr und hatte die Arme um sie geschlungen. Leah erinnerte sich, wie sicher sie sich in den Armen ihrer Schwester gefühlt hatte. Der Gedanke, dass sie dieses Gefühl wahrscheinlich nie wieder haben würde, machte sie unendlich traurig.
Sie zitterte, als die Gefühle sie erneut zu überwältigen drohten. Sie stand auf und begann, hin und her zu gehen, die Arme fest um sich geschlungen.
Sie wünschte, ihre Mutter wäre zu Hause. Sie fragte sich, wohin sie gefahren war. Was, wenn sie wieder irgendetwas Verrücktes tat? Es hatte Leah zu Tode erschreckt, mit ansehen zu müssen, wie sie auf dem Tennisplatz auf Ballencoa losgegangen war. Es war ihr vorgekommen wie eine Szene aus einem Horrorfilm, als wäre ihre Mutter von einem bösen Geist besessen oder so. Was, wenn so etwas noch mal passierte? Was, wenn sie verhaftet wurde?
Die Vorstellung machte Leah wütend. Er war nicht verhaftet worden. Es schien niemanden zu interessieren, dass er Leslie entführt hatte. Gerechtigkeit schien niemanden zu interessieren. Alle interessierten sich nur dafür, was sich beweisen ließ. Es war wie ein Spiel, und er beherrschte es besser als jeder sonst.
Zu all ihren anderen Gefühlen gesellten sich jetzt noch Verzweiflung und Wut, und der Druck in ihrem Inneren wurde immer größer. Sie wollte, dass das aufhörte. Sie dachte an die Rasierklinge in dem Buch in ihrem Nachttisch. Sie konnte sich schneiden. Sie wollte es nicht, aber sie hielt diesen Druck nicht aus. Er machte ihr Angst. Doch was, wenn sie es tat und er trotzdem nicht nachließ? Was dann? Würde sie sich dann noch mal und noch mal schneiden? Würde sie sich irgendwann so sehr schneiden, dass sie verblutete?
Der Gedanke, dass das passieren könnte, machte ihr noch mehr Angst.
Warum kam ihre Mutter nicht nach Hause?
Unvermittelt begann das Telefon zu klingeln, und Leah zuckte zusammen. Es war nicht der normale Klingelton wie bei einem Anruf.
Weitere Kostenlose Bücher