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Schattennaechte

Schattennaechte

Titel: Schattennaechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tami Hoag
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sollen die Leute nur denken? Wie peinlich!
    Die Frauen aus der Generation meiner Mutter waren dazu erzogen worden, ihre Gefühle hintanzustellen. Die Gesellschaft hatte ihnen weisgemacht, dass Frauen zu emotional reagierten, zur Hysterie neigten und über die Maßen launisch seien.
    Als würde er vor mir stehen, kann ich meinen Vater sehen, wie er zu meiner Mutter sagt: Stell dich nicht so an. Mach dich nicht lächerlich. So schlimm ist es doch wirklich nicht. So darfst du das nicht sehen. So darfst du nicht denken.
    An dem Tag, an dem Leslie entführt wurde, wusste ich, dass etwas nicht stimmte, sobald ich das Haus betreten hatte. Nicht, dass etwas irgendwie anders war als sonst, sondern dass etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht stimmte. Es gab keinen Grund, warum ich das hätte denken sollen. Deshalb redete ich mir ein, dass ich nur wegen der dauernden Streitereien mit Leslie angespannt war.
    Nachmittags war ich bei einer Kundin gewesen. Judith Ivory gestaltete ihr Strandhaus um. Es war die reinste Erholung, ein paar Stunden lang zu versuchen, Judith von ihren schlimmsten Einfällen abzubringen, statt zu Hause der schlechten Laune meiner älteren Tochter ausgesetzt zu sein.
    Ich kannte Leslie. Ich wusste, dass sie den ganzen Tag schmollend in ihrem Zimmer verbringen und nur mittags zum Essen und nachmittags zum Tee herunterkommen würde, um ihre schlechte Laune an uns auszulassen. Gegen Abend würde es besser werden. Zur Schlafenszeit würde sie sich reumütig geben – vielleicht noch nicht am ersten Tag des Hausarrests, aber am zweiten sicher. Dann würde sie einen cleveren, hinterlistigen Feldzug starten, um die Gunst ihrer Eltern zurückzuerobern.
    Dieses Mal würde ihr das nicht so leicht gelingen. Leslie kämpfte um ihre Unabhängigkeit, Lance um den Erhalt seiner Autorität. Ein Kampf der Giganten. Die nächsten paar Tage würde ich in unserem Haus einen Eiertanz veranstalten müssen.
    Leah, die süße, sensible Leah, tat mir am meisten leid. Unsere Friedensbotschafterin. Sie hatte nichts angestellt, musste aber genauso leiden wie ihre schuldige Schwester. So bald würden wir nichts gemeinsam unternehmen. Und Leah würde es sich verkneifen, sich mit ihren Freunden zu treffen, um Leslie nicht allzu deutlich die Konsequenzen ihres Fehlverhaltens vor Augen zu führen – eine Rücksichtnahme, die Leslie nicht verdiente und die ihr wahrscheinlich nicht in den Sinn gekommen wäre, wäre sie an Leahs Stelle gewesen.
    Leah tat mir schrecklich leid, und dennoch hatte ich die Gelegenheit ergriffen und war aus dem Haus geflohen, sodass sie allein mit ihrer Schwester fertigwerden musste. Ich hatte deswegen ein schlechtes Gewissen, aber gleichzeitig wusste ich, dass die Spannungen ohne mich sehr viel geringer sein und dass sich Leslie Leah gegenüber viel früher wieder freundlich verhalten würde als gegenüber uns Eltern.
    Ich rechnete damit, sie beide im Wohnzimmer vorzufinden, wo sie sich einen Film ansehen oder Videospiele spielen würden, oder dass sie draußen am Pool lagen, um sich zu sonnen und Modezeitschriften zu lesen. Das Leben in der Lawton-Erziehungsanstalt war eigentlich ganz gemütlich.
    Als ich, beladen mit Stoffmustern und Tapetenbüchern, durch die Tür zum Waschraum in die Küche trat, hielt ich inne. Die Stille im Haus war merkwürdig und ließ Angst wie eine kalte, knochige Hand über meinen Rücken kriechen.
    Ich ignorierte das Gefühl, so wie ich es gelernt hatte. Ich rief nicht einmal nach den Mädchen, um mich zu beruhigen. Ich ging in mein Atelier hinter der Küche und legte die Musterbücher auf den Tisch. Nach dem Abendessen würde ich meine Ideen zum Strandhaus der Ivorys notieren. Aber selbst während ich mich zu diesen alltäglichen Verrichtungen zwang, wurde ich das Gefühl der Bedrohung nicht los. Ich war so angespannt, dass ich zusammenzuckte, als Leah plötzlich in der Tür stand.
    »Hallo, Schätzchen«, sagte ich und rang mir ein mütterliches Lächeln ab. »Wie war der Tag mit der Monsterschwester?«
    Leahs Augen füllten sich mit Tränen. »Leslie ist zu dem Softballspiel gegangen.«
    »Sie hat was getan?«, rief ich, und mein Ärger überwog schlagartig alles andere.
    Leslie mochte dickköpfig sein, aber verantwortungslos war sie nicht. Ich wäre an diesem Tag niemals weggegangen, wenn ich nur eine Minute lang gedacht hätte, dass sie trotz des Hausarrests einfach abhaute und ihre Schwester allein zu Hause ließ.
    »Sie ist zu dem Softballspiel gegangen«, sagte Leah. Dann

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