Schattennaechte
abschließen können?
Die schlimme, deprimierende Wahrheit war, dass es so etwas wie einen Abschluss nicht gab. Eine solche Tragödie war wie ein Stein, der in ein vollkommen still daliegendes Meer geworfen wurde. Der Wellenkreis breitete sich endlos immer weiter aus.
Erschöpft vom Nachdenken, verließ Lauren das Arbeitszimmer. Aber sie war zu unruhig, um schlafen zu können, und so wanderte sie durchs Haus.
Sie hatte zu Anne gesagt, es würde ihr nichts ausmachen, allein zu sein. Leslie war schließlich nicht von zu Hause entführt worden. Niemand war in ihre Privatsphäre eingedrungen. Allerdings kam ihr das Haus hier am Ende einer Sackgasse bei Dunkelheit noch größer vor, als es ohnehin war. Erst jetzt schien sie all die großen Fenster im Erdgeschoss zu bemerken und fragte sich, warum sie Sissy nicht überredet hatte, Fensterläden zu montieren oder wenigstens Vorhänge anzubringen.
Nachts verwandelten sich die Fenster, die bei Tag eine fantastische Aussicht boten, in riesige schwarze Löcher. Und jeder, der draußen stand, konnte ins Innere des Hauses schauen und alles darin beobachten.
Lauren erschauerte bei dem Gedanken. Sie legte sich die alte schwarze Strickjacke ihres Mannes um die schmalen Schultern und stellte sich vor, dass es Lance’ Arme waren, die sich beruhigend um sie schlossen. Sie hatte sie seit zwei Jahren nicht gewaschen. Sie bildete sich ein, dass die Jacke noch nach ihm roch.
Aber selbst in diesem Moment, in dem sie sich mit Erinnerungen an ihn umgab, verfluchte sie ihn, weil er sie verlassen hatte, weil er Leah verlassen hatte. Jetzt hatte auch Leah sie verlassen – und sei es nur für eine Nacht –, und sie war völlig allein.
Wie eine Katze streifte sie durch das dunkle Erdgeschoss. Hinter dem Haus hing ein riesiger runder Mond am Himmel wie eine chinesische Laterne, sein quecksilberfarbenes Licht ergoss sich über die Wiesen und drang durch die Fenster herein.
Es war kurz nach zwei.
Sie schaltete das Licht in der Küche und im Wohnzimmer ein und hörte den Anrufbeantworter ab, während sie sich ein Glas Wein eingoss. Nach Bumps Anruf am frühen Abend war sie nicht mehr an den Apparat gegangen. Ein Werbeanruf und eine Einladung, Mitglied im Naturschutzbund zu werden, und dann kam eine Stimme, die sie trotz ihres rauen erotischen Klangs zusammenzucken ließ.
»Hallo, Lauren, hier ist Greg Hewitt. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht. Ruf mich an.«
Darauf kannst du lange warten , dachte Lauren und löschte die Nachricht.
Sie ging zu dem alten blassblauen Tischchen, das sie vor Jahren hinter dem riesigen Sofa platziert hatte. Sie hatte sich dabei vorgestellt, dass Sissy nach Hause kommen und hier ihre Handtasche ablegen würde und dass ihre Enkel reinkommen und ihre Büchertaschen darauf werfen würden. Normalerweise legten sie und Leah dort auch tatsächlich ihre Handtaschen ab, wenn sie heimkamen – nur war ihre nicht da.
Seltsam. Sie war sicher, dass sie sie dort abgelegt hatte. Sie legte sie immer dorthin.
Sie trat von dem Tisch zurück und musterte ihn misstrauisch, als könnte er ihre Handtasche verschlungen haben.
Sie legte ihre Tasche immer auf den Tisch.
Draußen frischte plötzlich der Wind auf, so als würde der Nachthimmel tief ausatmen, und die Bäume rauschten und wiegten sich hin und her. Zitternd zog Lauren die Jacke ihres Mannes enger um ihre Schultern.
Sie legte ihre Tasche immer auf den Tisch.
Sie ging in Gedanken den Tag durch. Sie war von der Schießanlage nach Hause gefahren und hatte als Allererstes die Waffentasche aus dem Kofferraum geholt und nach drinnen gebracht. Die Walther sollte an Ort und Stelle sein, wenn sie sie brauchte. Sie nützte ihr nichts, wenn sie im Auto lag.
Sie hatte die Tasche ins Schlafzimmer getragen. Dann hatte Sissy aus einem Hotel in San Francisco angerufen, wo sie eine Antiquitätenmesse besuchte, und sie hatten sicher eine Stunde lang geredet … Später hatte sie sich ein Glas Weißwein eingeschenkt und ein Bad eingelassen.
Vielleicht hatte sie die Handtasche ja im Auto vergessen? Sie war abgelenkt gewesen. Sie hatte vorgehabt, noch einmal in die Stadt zu fahren und etwas zum Abendessen zu besorgen. Stattdessen hatte sie ein paar Pistazien und Mandeln gegessen und sich an den Schreibtisch gesetzt.
Der Gedanke, dass die Handtasche noch im Auto liegen könnte, gefiel ihr nicht. Ihre Handtasche war für sie wie für die meisten Frauen so etwas wie das Schmusetuch für einen Zweijährigen. Ihr halbes Leben
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