Schattennaechte
platzte sie mit der ganzen Geschichte heraus. »Sie hat gesagt, sie wäre vor euch zurück, aber sie ist schon eine halbe Ewigkeit fort, und Valerie Finley hat angerufen und wollte sie sprechen, und ich habe ihr gesagt, dass Leslie zu dem Softballspiel wollte, und sie sagte, sie hätte sie dort gesehen, aber dass das Spiel schon lange aus ist und Leslie sie anrufen wollte, sobald sie zu Hause ist.«
Heftig schluchzend sank Leah in meine Arme und bat um Verzeihung. Ob sie mich oder ihre Schwester um Verzeihung bat, war nicht klar, aber ich schloss die Arme um sie und sagte ihr, sie solle nicht weinen.
So darfst du das nicht sehen. So darfst du nicht denken.
Noch während ich Leah sagte, sie solle nicht weinen, fing ich selbst an zu weinen und wusste, dass wir im Begriff waren, durch ein schwarzes Loch in ein anderes Universum zu stürzen, und dass es nie mehr so sein würde wie zuvor.
Die nächsten beiden Stunden war ich hin- und hergerissen zwischen Ärger und Sorge. Ich telefonierte sämtliche Freunde von Leslie durch. Vielleicht war sie noch mit einem von ihnen unterwegs. Es war Samstag. Vielleicht waren sie in die Shopping Mall oder ins Kino gegangen und hatten die Zeit vergessen. Vielleicht hatte sie die Zeit auch nicht vergessen und war nur trotzig.
Am liebsten hätte ich sie an den Schultern gepackt und geschüttelt – was ich noch nie in meinem Leben gemacht hatte.
Immer wieder sah ich auf die Uhr, als würde das Lance schneller nach Hause bringen. Er war zu einem Baseballspiel gegangen und wollte danach noch mit seinen Polo-Freunden ein Bier trinken. Er hatte gesagt, er würde um sechs Uhr zu Hause sein und Steaks grillen. Als er endlich kam, war es zwanzig vor sieben.
An diesem Abend gab es nichts zu essen. Lance machte sich sofort auf die Suche nach unserer Tochter. Leah und ich blieben zu Hause und warteten darauf, dass Leslie durch die Tür trat. Leah machte sich in der Mikrowelle etwas warm. Sie hatte auch eine Portion für mich hergerichtet, aber ich konnte nichts essen. Ich erinnere mich nicht daran, irgendwann in dieser Zeit etwas gegessen zu haben, bis ich auf der Pressekonferenz zwei Tage später zusammenklappte.
Am Montagnachmittag entdeckte ein Paketbote Leslies Fahrrad hinter der Böschung einer Landstraße.
Der Albtraum begann.
Lauren speicherte das Geschriebene ab und schob ihren Schreibtischstuhl zurück. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt und fragte sich, ob ihr Vorhaben wirklich klug war. Sie hatte gehofft, dass es heilsam war, wenn sie all ihre Gefühle in Worte fasste, dass sie dann wenigstens einen Teil von ihnen loswurde. Aber alles noch einmal zu durchleben …
Sie fragte sich, was Anne Leone dazu sagen würde. Die meisten Therapeuten, die sie kannte oder von denen sie durch ihre Freunde gehört hatte, versuchten, ihre Patienten dazu zu bringen, ihr Innerstes auszubreiten, zu sezieren, zu untersuchen, durchzukauen, wieder und wieder.
Sie fragte sich, ob Anne das getan hatte, nachdem sie so knapp dem Tod durch die Hand eines verrückten Mörders entkommen war. Sie fragte sich, ob es gegen das Entsetzen half, das sie in Erinnerung an diese Nacht empfinden musste, als sie gezwungen gewesen war, einen anderen Menschen fast zu erschlagen, um ihr eigenes Leben zu retten.
Sie fragte sich, wie Anne es schaffte, nach alldem so normal zu wirken. Lauren hatte sich seit der Entführung ihrer Tochter nicht einen Tag, nicht eine Stunde, nicht eine Minute normal gefühlt. Sie hatte Normalität nicht einmal vortäuschen können. Sie hatte zugesehen, wie die meisten ihrer vermeintlichen Freunde sich immer weiter von ihr entfernten, als sie es nicht schaffte, aus dem emotionalen Loch herauszukommen, ja, deren Meinung nach nicht einmal den Versuch dazu unternahm.
Sie dachten offenbar, dass man sich von dem Verlust eines Kindes erholte, dass man darüber hinwegkam. Lauren konnte sich nicht vorstellen, dass das jemals passierte. Allein der Gedanke kam ihr obszön vor.
Es war nicht normal, dass einem ein Kind gewaltsam entrissen wurde. Es war nicht normal, die Suchaktionen durchzustehen, die öffentlichen Aufrufe, die Pressekonferenzen, den Verdacht, unter dem man plötzlich selbst stand. Es war nicht normal, zusehen zu müssen, wie der Mann, der das eigene Kind entführt und ihm wer weiß was für schreckliche Dinge angetan hatte, frei herumspazierte.
Wenn aber nichts von dem, was sie durchmachte und durchgemacht hatte, normal war, wie sollte sie selbst dann normal sein? Warum erwarteten
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