Schattennaechte
und so cool. Leah tat es fast weh zu sehen, wie sehr Anne ihre Kinder liebte. Haley und Antony liefen ständig zu ihr, um sich eine Umarmung oder einen Kuss abzuholen oder um sich kichernd kitzeln zu lassen. Wenn Leah ihnen dabei zusah, wünschte sie, sie wäre auch wieder klein und wüsste nicht, dass mit dieser Welt und den Menschen etwas nicht stimmte.
Damals war ihre Mutter genauso wie Anne gewesen. Sie hatte viel Zeit mit ihr und ihrer Schwester verbracht. Sie hatten dauernd etwas unternommen. Und sie hatten gelacht und einander umarmt und geküsst.
Leah vermisste das. Sie vermisste es so sehr, dass sie es kaum ertragen konnte, Anne mit ihren Kindern zu beobachten. Mehr als ein Mal hatte sie an diesem Abend die Tränen zurückdrängen müssen. Sie hatte sich so verlassen gefühlt …
Bei der Erinnerung daran stiegen ihr erneut Tränen in die Augen, während sie Bacchus weiterstriegelte. Im Stall war es still. Umberto Oliva, der Pferdepfleger, machte Mittagspause. Maria war zum Essen in ihr Haus gegangen. Der nächste Reitunterricht fand erst um halb vier Uhr statt. Leah war ganz allein im Stall.
Sie striegelte Bacchus’ Fell, bis er glänzte wie ein nasser Seehund und jeder Sonnenstrahl die helleren Stellen leuchten ließ. Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel – der kluge, allwissende Bacchus. Er war wie ein Wesen aus einer anderen Welt mit einer uralten Seele.
Leah führte ihn zurück in seine Box, deren Boden mit frischen Sägespänen bedeckt war. Dort legte sie die Arme um seinen Hals und presste ihre Wange an sein Fell, tauchte in seine Wärme und seinen Geruch ein. Sie wünschte, er könnte ihre Umarmung erwidern. Sie sehnte sich so sehr danach, in den Arm genommen zu werden.
Wäre nur ihr etwas Schlimmes widerfahren, hätte sie zu ihrer Mutter gehen können, um sich trösten zu lassen. Aber es war ihnen beiden etwas Schlimmes widerfahren. Und jetzt hatte keine von ihnen jemanden, zu dem sie gehen konnte.
Leah spürte, wie der Druck in ihrem Inneren zunahm. Sie dachte an den letzten Schnitt, den sie sich zugefügt hatte. Er juckte, und sie musste ständig kratzen. Weil er heilte? Oder weil sie nicht wollte, dass er heilte?
Als sie in der nachlassenden Hitze des Nachmittags bei Anne angekommen waren, hatten sie alle ihre Schwimmsachen angezogen und waren in den Pool gesprungen. Leah trug einen einteiligen Badeanzug, sodass niemand die Narben an ihrem Körper sehen konnte. Wendy hatte sie deswegen aufgezogen.
»Du siehst aus, als ob du vorhast, in die Schwimmmannschaft einzutreten. Willst du denn gar nicht braun werden? Dein Bauch bleibt ja total weiß, wenn du nicht ein kurzes Oberteil anziehst.«
»Ich will ja auch in die Schwimmmannschaft«, sagte Leah. »Und außerdem reite ich den ganzen Tag. Da sieht niemand, ob mein Bauch weiß ist oder nicht.«
Der Gedanke, wieder in die Schule zu gehen und auf neue Klassenkameraden und neue Lehrer zu treffen, machte ihr Angst. In ihrer alten Schule hatte sie genau gewusst, wie sie sich im Umkleideraum umziehen konnte, ohne dass ihr jemand dabei zusah. Dort kannte sie jeder seit einer Ewigkeit und achtete nicht weiter auf sie. Als Neue an der Schule würden die anderen sie bestimmt die ganze Zeit anstarren und sich über sie das Maul zerreißen.
Warum war sie so? Warum tat sie das? War sie nicht die mit der verschwundenen Schwester? Bestimmt war sie irgendwie merkwürdig. Bestimmt war ihre ganze Familie merkwürdig. Warum sonst passierte so was? Hatte sich ihr Vater nicht umgebracht? Bestimmt hatte er ihrer Schwester was angetan …
Alles würde wieder von vorn anfangen.
Der Druck in ihrem Inneren wuchs weiter, als wäre sie ein Luftballon, kurz davor zu platzen. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, mit jemandem darüber zu reden, aber sie traute sich nicht, es Wendy zu erzählen, und sie traute sich auch nicht, es ihrer Mutter zu erzählen. Anne Leone war Opfer eines Verbrechens gewesen. Ihr Beruf war es, anderen Opfern und Kindern in Not zu helfen. Aber was würde geschehen, wenn Leah ihr erzählte, was sie fühlte und was sie tat, damit es aufhörte? Anne würde es sicher ihrer Mutter erzählen. Das würde sie nicht ertragen.
Zu wissen, dass es jemanden gab, der ihr vielleicht helfen könnte, und sich nicht zu trauen, zu ihm zu gehen, war so, als stünde jemand, der kurz vor dem Verhungern war, an einem Büfett und könnte nichts essen.
Der Druck wuchs weiter.
Leah widerstand dem Drang zu weinen, schob eine Hand in ihre Reithose und tastete
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