Schattennaechte
nach dem Pflaster, das den Schnitt bedeckte. Sie zog es ab und fuhr mit den Fingernägeln über die noch nicht ganz verheilte Wunde. Der stechende Schmerz war wie eine Erlösung.
Er brachte ihr Erleichterung.
Dann folgte die Scham.
Dann kamen die Tränen.
Leah presste eine Hand auf den Mund und kniff die Augen zusammen, versuchte, sie zurückdrängen. Bacchus drehte den Kopf und sah sie mit seinen großen dunklen Augen neugierig und traurig an. Leah streckte die Hand aus und strich ihm mit zitternden Fingern über die Nüstern.
Draußen fuhr ein Auto vor und wirbelte eine Staubwolke auf.
Leah trat von ihrem Pferd weg und wischte sich mit einem Zipfel ihres schwarzen Poloshirts über die Augen.
Eine Männerstimme direkt vor ihrer Box ließ sie zusammenzucken.
»Hallo? Entschuldigung, kannst du mir vielleicht helfen?«
Sie kannte den Mann nicht, hatte ihn noch nie gesehen. Er war schon älter, vierzig oder so, sah aber gut aus – braun gebrannt, groß, breitschultrig. Seine blonden Haare waren zerzaust wie die eines Surfers. Er bemühte sich um ein gewinnendes Lächeln, das jedoch nicht bis zu seinen Augen reichte. Als sie zu ihm hochblickte, verschwand es.
»Alles in Ordnung?«, fragte er. »Du weinst ja.«
»Mein Pferd ist mir auf den Fuß getreten«, sagte Leah und hoffte, dass Bacchus ihr die Lüge verzieh. »Nicht weiter schlimm.«
»Ich bin Mike«, sagte der Mann und streckte die Hand durch die offene Luke der Box.
Leah warf einen Blick auf seine Hand und dachte, dass er vermutlich irgendein Vertreter war. Ständig kamen welche vorbei und versuchten, die Gracidas zu überreden, das Futter für ihre Pferde oder sonst was zu wechseln.
Sie wollte ihm gerade die Hand schütteln, als sie bemerkte, dass ihre Fingerspitzen blutverschmiert waren. Sie ließ sie sinken und wischte sie an ihrem Hemd ab.
»Und wie heißt du?«, fragte er.
»Leah«, sagte sie widerstrebend. Der Mann war ihr irgendwie unsympathisch. Er sah zwar gut aus, aber in seinen halb zusammengekniffenen haselnussbraunen Augen lag ein harter Ausdruck. Bei einem Tier mit diesem Blick hätte sie Angst gehabt, dass es sie beißen könnte.
Bacchus streckte, die Ohren angelegt, den Kopf vor, um an der Hand des Mannes zu schnuppern.
»Hi, Leah«, sagte der Mann und lächelte wieder, »arbeitest du hier?«
»Ja.«
»Da hast du’s gut getroffen.«
Leah schwieg. Sie stieß den typischen Seufzer eines gelangweilten Teenagers aus, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie sich von seinem falschen Charme nicht beeindrucken ließ.
»Reitest du, Leah?«
»Ja.«
»Ist das dein Pferd?«
»Ja.«
»Schönes Tier.«
»Danke.«
»Hast du es schon lange hier stehen?«
»Brauchen Sie etwas?«, fragte sie.
Das aufgesetzte Lächeln verschwand. Er schob den Unterkiefer hin und her. Es gefiel ihm nicht, dass sie ihm die freundliche Tour nicht abkaufte.
»Ich suche die Reitlehrerin.«
»Sie ist nicht da«, sagte Leah. Allmählich begann sie, sich unbehaglich zu fühlen, und ihr wurde bewusst, dass sie immer noch allein im Stall waren. Um die Futterlieferungen kümmerten sich Umberto und die anderen Stallknechte und Arbeiter.
Sie dachte an Leslie. Sie hatte sich immer gefragt, was passiert war, wie es passiert war. War es so ähnlich gewesen wie jetzt? Hatte der Mann ihr zunächst ein paar Fragen gestellt, so getan, als würde er ihre Hilfe brauchen?
Leslie sprach mit jedem. Sie hatte keine Angst vor anderen Menschen. Sie war hilfsbereit. Sie hatte bestimmt mit ihrem Entführer gesprochen, weil sie ihn schon mal gesehen hatte. Sie wusste, wer er war. Die Polizei ging davon aus, dass er neben Leslie und ihrem Fahrrad gehalten hatte, sie vielleicht unter einem Vorwand um Hilfe gebeten oder ihr angeboten hatte, sie nach Hause zu fahren. Ihr Fahrrad hatte einen platten Reifen, als sie es fanden. Vielleicht hatte er sich am Sportplatz daran zu schaffen gemacht und war ihr dann gefolgt, als sie nach dem Spiel nach Hause fahren wollte.
Wie es auch abgelaufen war, er hatte sie und ihr Fahrrad gepackt und in seinen Lieferwagen geworfen, und dann war es zu spät gewesen.
Leah blickte den Gang hinunter und sah das Auto des Fremden vor dem Stall stehen, abseits vom eigentlichen Parkplatz. Er konnte sie aus dem Stall zerren und in den Kofferraum werfen und mit ihr davonfahren, bevor irgendjemand mitbekam, was vor sich ging.
»Weißt du, wann sie wieder da ist?«, fragte der Mann.
»Bald«, sagte Leah. »Sie kann jeden Augenblick zurückkommen.«
»Dann warte
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