Schattennetz
Überlieferungen und Erzählungen stimmten. Nur eines aber, da bestand für Häberle gar kein Zweifel, konnte mit hoher Sicherheit gesagt werden: Es musste eine Macht geben, die hinter allem stand, die das Universum eingerichtet und das Leben erschaffen hat. Warum nur konnte sich die Menschheit nicht auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und diesen einen Gott anbeten, ohne ihn zu personifizieren, ohne ihm verschiedene Geschichten und Legenden anzudichten, die dazuhin noch unterschiedlich ausgelegt werden konnten? Welcher Irrtum, musste Häberle denken, dass sich der Mensch seine Götter schuf – anstatt sich bewusst zu werden, dass es nur einen geben konnte. Der Kriminalist nahm sich vor, dies alles einmal mit der Dekanin zu bereden, wenn der Fall gelöst war.
»Ich glaube, unsere Berufe verbinden uns mehr als wir bisher vermutet haben«, holte ihn die Stimme der Theologin nach zwei, drei Sekunden des Nachdenkens wieder in die Realität zurück. »Beide haben wir es mit Menschen zu tun, die einen Ausweg suchen. Verzweifelte, Verzagte, Ängstliche, Hoffnungslose. Und wenn wir uns ihrer annehmen, stellen wir fest, dass die Wurzeln des Elends sehr tief liegen. Und dass diese Menschen oftmals in etwas hineingeraten sind, für das sie selbst keine Erklärung haben. Weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren, weil sie in etwas hineingeboren wurden, das ihnen wie ein vorbestimmtes Schicksal vorkommt, als ob sie nie die Wahl gehabt hätten, einen anderen Weg zu beschreiten.«
»Glauben Sie denn an so etwas wie einen vorbestimmten Lebensweg?«, fragte Häberle, während er noch darüber grübelte, was ihm die Dekanin mit diesen Ausführungen sagen wollte.
»Gott hat für jeden von uns einen Plan. Aber er hat auch den Menschen einen freien Willen gegeben, diesen Plan auszuführen oder sich dagegen zu entscheiden.«
Das waren Sätze, wie sie Häberle nicht gefielen. Wischiwaschi. Überhaupt konnte er mit manchem, was die Theologen aus der Bibel herauslasen oder besser: in sie hineininterpretierten, nicht sehr viel anfangen. Er verkniff es sich, etwas zu erwidern.
»Wenn wir jetzt wieder unseren Fall betrachten«, schwenkte er um und bedauerte es bereits, dass er das Wort »Fall« in den Mund genommen hatte. »Wenn wir also sehen, was in der vergangenen Woche hier geschehen ist, dann stehen wir vor dem Ende dreier Leben. Drei Menschen mussten sterben – und wir wissen immer noch nicht warum.«
»Auch wenn wir die Antwort finden«, entgegnete die Dekanin, »und daran hab ich gar keinen Zweifel – dann wird dies nichts an all dem Schrecklichen ändern, das hier geschehen ist. Wir werden versuchen, es zu verstehen, aber der Tod ist etwas Endgültiges.«
»Das klingt so, als seien Sie nicht davon überzeugt, dass es weitergeht. Auferstehung und so?«
»Wir glauben an das ewige Leben. Das Universum ist ewig – deshalb kann nichts verloren gehen.« Sie lächelte. »Wir werden natürlich nicht in unseren Körpern wiederkommen, sondern mit dem Geist, der Seele. Auch Jesus war nach der Auferstehung ein anderer, wenn Sie sich erinnern.«
Häberle hatte dies so nicht mehr in Erinnerung.
»Jesus konnte nach der Auferstehung durch Mauern und Türen gehen«, erklärte sie. Häberle wollte gerade daran anknüpfen und trotz allen Stresses eine theologische Frage stellen, da unterbrach ihn ein sanftes Klopfen an die Tür. Die Dekanin rief: »Ja, bitte?« und sogleich streckte ihre Mitarbeiterin den Kopf herein. »Herr Stumper ist da«, informierte sie.
Häberle erhob sich und schüttelte dem leicht eingeschüchterten Kirchenmusikdirektor die Hand. Auch die Theologin stand auf, reichte Stumper die Hand zur Begrüßung und bot ihm den Platz neben Häberle an. »Entschuldigen Sie«, räusperte sich Stumper verlegen. »Ich wollte Sie keineswegs stören. Aber eine Schülerin hat mir heut Mittag etwas Interessantes erzählt.«
Die Dekanin klärte den Kommissar auf: »Herr Stumper gibt Orgelunterricht. Auch wir müssen etwas für den Nachwuchs tun.«
»Ja«, Stumper lächelte zurückhaltend und hinterließ den Eindruck, als fühle er sich in dieser Gesellschaft nicht allzu wohl. »Die Kerstin, die Tochter von Frau Schanzel – sie geht ins Gymnasium. Parallelklasse zu Silke Simbach.« Er wandte sich erklärend an Häberle: »Die Tochter des verstorbenen Herrn Simbach.«
Die Dekanin wurde ungeduldig. »Was ist mit der?«
»Sie soll ziemlich rechtsradikale Sprüche losgelassen haben – diese Silke Simbach«, kam
Weitere Kostenlose Bücher