Schattennetz
hatte das Ziel offenbar nicht verfehlt. Sergije wandte seinen Blick zu Häberle und musterte ihn mit schmalen Augen.
Der Kriminalist ließ sich davon nicht abbringen und drängte Silke: »Da gibt es also eine finstere Vergangenheit?«
Sie sah zu Sergije, dann wieder zu Häberle.
Doch sie wollte dazu nichts sagen. Nicht jetzt.
39
Dekanin Gertrud Grüner hatte an diesem Abend noch lange in ihrem Büro über Akten gebrütet, die sich um die Sanierungsarbeiten an der Stadtkirche drehten. Nach den Sommerferien würde sich der Kirchengemeinderat damit befassen müssen – auch wenn bis dahin, wie sie befürchtete, immer noch ein anderes Thema im Vordergrund stehen dürfte. Vom nahen Kirchturm schlug es bereits Mitternacht, als sie den Ordner mit den Rechnungen und Lieferscheinen wieder ins Regal steckte und im Schein einer Stehlampe nach einem Schnellhefter griff, der in einem der Plastikkästchen auf ihrem Schreibtisch lag. Sie ließ sich in einen der Sessel fallen, die um den Besprechungstisch gruppiert waren, während durchs gekippte Fenster das lang anhaltende Rattern eines vorbeifahrenden Güterzugs den Raum erfüllte.
Die Theologin blätterte in dem Schnellhefter, in dem sie Faxe und ausgedruckte Mails abgelegt hatte. Absender waren verschiedene Personen in Bischofswerda und Dresden, aber auch Pfarrer und kirchliche Institutionen. Sie alle hatten mit Stellungnahmen und Berichten dazu beigetragen, dass sie sich nun ein Bild von jenen Personen verschaffen konnte, die in diese äußerst schrecklichen Verbrechen verwickelt waren. In den vergangenen Tagen hatten sie und ihre Mitarbeiterin unzählige Telefonate geführt, im Internet recherchiert und aus Kirchenkreisen erfahren, wie sich die Situation zu Zeiten der politischen Wende dargestellt hatte.
Die Dekanin, die das historische Altstadthaus allein bewohnte, zog sich erst gegen 1 Uhr in den privaten Teil des Gebäudes zurück, dessen Fachwerkkonstruktion in so warmen Sommernächten knackte und zu leben schien. Derlei Geräusche, wie sie die Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht auszulösen vermochten, waren der Theologin längst nicht mehr fremd. Ruhig war es in diesem Winkel der Altstadt ohnehin nicht. Denn auf der Bahnlinie, die keine 100 Meter Luftlinie entfernt vorbeiführte, verkehrten auch nachts regelmäßig Züge.
Es war kurz vor 2.30 Uhr, als die Theologin trotz der Probleme, mit denen sie sich beschäftigt hatte, längst schlief. Die Altstadt lag dunkel und verlassen, die schmale Gasse vor dem Haus wirkte finster und einsam. Hinter keinem der Fenster brannte mehr ein Licht, auch drüben in der Fußgängerzone nicht. Es waren jene Stunden des Tages, an denen die Kleinstadt schlief. Hier in der City gab es keine Clubs oder Diskotheken, die um diese Zeit noch geöffnet waren. Spätestens, wenn um 1 Uhr die Kneipe an der Ecke der Fußgängerzone zur Hansengasse dicht machte, verschwanden auch die letzten Nachtschwärmer in der Dunkelheit. Dass sich in dieser Julinacht irgendwo zwischen den Häusern ein Schatten gelöst hatte, eine menschliche Gestalt, das hätte jeden, der auf ihn aufmerksam geworden wäre, stutzig gemacht. Doch es gab niemanden, der diese lautlose Bewegung wahrnahm. Es war eine schlanke, große Gestalt und offenbar ein Mann, der eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Er kam von der Stadtkirche herüber und strich am dunklen Schaufenster des Verlagsgebäudes der ›Geislinger Zeitung‹ entlang, um in der Fußgängerzone kurz zu verharren. Sein prüfender Blick traf die menschenleere Straße, deren Kandelaber auf nächt-lichen Sparmodus geschaltet waren und deshalb nur ihr abgedimmtes Licht verbreiteten. Der Mann sah zu den Giebeln der Altstadthäuser hinauf, wo die Fenster wie schwarze Löcher erschienen. Er überquerte die Fußgängerzone und ging hinüber zur Hansengasse, drückte sich am Gebäude der Eckkneipe entlang und tauchte in den nachtschwarzen Schatten ein, der über dem engen Straßenraum lag. Von hier aus konnte er die umliegenden Häuser beobachten, deren beide Obergeschosse sich in der Dunkelheit des sternenlosen Himmels verloren. Der Mann sah zu dem rechts vor ihm liegenden Gebäude hinauf, in dem ebenfalls kein Licht brannte. Zufrieden atmete er die kühle Nachtluft ein und trat wieder aus dem Schatten heraus, um zur gepflasterten Fußgängerzone zurückzugehen. Was er gesehen hatte, ermunterte ihn, seinen Plan zu Ende zu führen. Er bog an der Eckkneipe nach links ab und folgte dem dunklen Schaufenster
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