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Schattennetz

Schattennetz

Titel: Schattennetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Bomm
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eines Textilgeschäfts, an dessen Ende sich ein schmales Stück verwilderten Gartens anschloss. Davor erhob sich der unbeleuchtete Koloss des ›Sonnecenters‹, links zweigte die Rosenstraße ab, wo ein paar Garagen in den Garten hineingebaut waren. Von hier aus konnte der Mann auch zum Kirchplatz hinüberblicken, auf dem sich im Licht der Straßenlampen die Reiterstandfigur silhouettenartig vom dahinter liegenden Pfarrhaus abhob. Während er sich die Umgebung einprägte, jedes Detail in sich aufsog, schwoll das Rattern eines näherkommenden Güterzugs an. Ein paar Sekunden später donnerten mehrere Dutzend Waggons über das beleuchtete Rosendol hinweg. Währenddessen kam ihnen unten auf der parallel verlaufenden Straße ein Kastenwagen entgegen.
    Der Mann drückte sich an den Garagen vorbei, erreichte schließlich die schmiedeeiserne Umzäunung des Gartens und damit die Rückseite jenes Karrees, zu dem das Dekanatsgebäude gehörte. Dunkle Fenster, keine Auffälligkeiten – zumindest was im wenigen Streulicht der Straßenlampen zu erkennen war. Mit einer schnellen Flanke überwand der Mann den Zaun und landete im taufeuchten Gras, das ihm fast bis zu den Knien reichte. Er spürte, wie seine leichte Stoffhose an den Waden nass wurde, als er sich mit wenigen Schritten einem der Häuser näherte. Sein Ziel war ein ebenerdiges und gekipptes Fenster, das er bereits im Laufe des Abends ausgekundschaftet hatte. Es befand sich links neben einer Holztür. Dass sie offen sein würde, konnte der Mann zwar nicht erwarten. Doch weil er nichts unversucht lassen wollte, drückte er mit der Handschuh geschützten Rechten die Klinke vorsichtig nieder. Vergeblich. Wie erwartet. Zufrieden stellte er fest, dass er im Schatten der Sträucher gut getarnt war. Mit wenigen Griffen hob er das gekippte Fenster aus den Angeln und ließ es nahezu lautlos – und nur noch am unteren Kloben verankert – nach innen schwenken.
    Der Mann blickte sich erneut um, doch an keinem der umliegenden Häuser war Licht angegangen. Ihn aus Distanz zu beobachten, wäre ohnehin schwer gewesen, zumal die Sträucher nicht nur ein perfekter Sichtschutz waren, sondern im diffusen Licht der Straßenlampen auch einen Wirrwarr aus Schatten entstehen ließen. Er fühlte sich jetzt absolut sicher, umfasste mit beiden Händen den unteren Teil des Fensterrahmens, stieß sich mit den Beinen ab und kniete auf den Sims. Der Geruch eines Reinigungsmittels stieg ihm in die Nase. Als er vorsichtig in den Raum hineingestiegen war, um das Fenster nicht zu beschädigen, wurde ihm die Ursache des seltsamen Geruchs klar: Er befand sich in einer Toilette.
    Er fingerte aus einer Hosentasche eine dünne Halogenlampe und richtete den Strahl auf die windschiefe Tür, die sich leise in den Flur hinein öffnen ließ, wo mehrere auf dem Boden liegende Aktenbündel den Durchgang verengten. Links zweigten zwei Türen ab, denen der Mann jedoch keine Bedeutung beimaß. Dass sich Wohnung und Büroräume in der oberen Etage befanden, war ihm geläufig. Zufrieden stellte er fest, dass er es hier noch mit einem Steinboden zu tun hatte, der kein Knarren verursachen konnte. Mit vier, fünf Schritten erreichte er die vordere Eingangstür, durch deren milchglasigen Einsatz von außen schwaches Licht hereindrang.
    Er ließ den dünnen Lampenstrahl an der Wand entlangtanzen, bis er links auf den geschwungenen Treppenaufgang traf. Für einen Moment blieb er stehen, lauschte und erhellte dann die Holzstufen. Sie würden mit Sicherheit knarren, dachte er, während er den rechten Fuß am äußersten rechten Rand auf die erste Stufe setzte. Kein Geräusch. Er atmete auf. Linker Fuß, zweite Stufe. Vorsichtiges Belasten. Vergeblich. Er erschrak über das zwei- und dreifache Knarren und blieb reglos stehen. Eine halbe Minute lang. Als er gerade die dritte Stufe betreten wollte, drang von außen aufkommendes Rauschen an sein Ohr. Ein Zug, durchzuckte es ihn. Ein Zug zur rechten Zeit. Ihn hatte der Himmel geschickt. Wenn der Geräuschpegel anschwoll, so nahm sich der Mann vor, würde er mit einem einzigen Anlauf die obere Etage erklimmen. Doch der Erleichterung folgte gleich Ernüchterung: Ein lauter Güterzug konnte auch die Dekanin aus dem Schlaf reißen. Aber wahrscheinlich, so versuchte er sich sofort wieder zu beruhigen, war sie diese Geräusche gewohnt. Instinktiv tastete er nach dem Messer, das in einem Etui am Hosenbund steckte. Er war auf alles gefasst und entsprechend ausgerüstet – auch wenn er

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