Schattennetz
ausgebrannt und leer. Immerhin war jetzt endlich die Beerdigung anberaumt, die nun am kommenden Montag stattfinden sollte. Zwar hatte sie mit Silke schon viele Male darüber gesprochen, wie es weitergehen solle. Doch zu einem richtigen Ergebnis waren sie bisher nicht gekommen. Jetzt aber war die Witwe wild entschlossen, alle bestehenden Brücken abzubrechen und woanders hinzuziehen. Egal, wie alles ausgehen würde, etwas blieb in dieser Kleinstadt an ihr haften. Sie wusste, dass ihre heimliche Beziehung Gesprächsthema an den Stammtischen war. Außerdem auch ihr kurzes Techtelmechtel mit Faller. Dass sie diese Abenteuer inzwischen bereute und sie am liebsten aus ihrem Leben gestrichen hätte, tat dabei nichts zur Sache. Womöglich galt sie sogar als die Wurzel allen Übels. Sie hatte den Ehemann betrogen, ja, wahrscheinlich wurde sogar hinter vorgehaltener Hand vermutet, sie hätte ihn umgebracht oder zumindest beseitigen lassen.
Seit Silke übers Internet und durch diverse andere Recherchen Torstens dunkle Vergangenheit entdeckt hatte, war für Sabrina eine Welt zusammengebrochen. Niemals hätte sie dies vermutet. Niemals. Er konnte so charmant und einfühlsam sein, hatte ihr das Gefühl gegeben, akzeptiert und verstanden zu werden. Überhaupt gab es in den vergangenen Monaten zwischen ihnen nichts, was unausgesprochen geblieben wäre. Zumindest hatte sie dies bis gestern geglaubt. Das Schrecklichste aber war in seinem Kopf verborgen geblieben. Diese Hände, so schauderte es ihr, diese Hände, mit der er sie gestreichelt hatte, diese Hände hatten eine Waffe entsichert und einen anderen Menschen getötet. Einen oder vielleicht sogar mehrere.
Für sie war dieses Kapitel endgültig vorbei. Auch, wenn sie es nie, niemals aus dem Gedächtnis würde löschen können. Und wer wusste schon, welches Geheimnis Alexander mit ins Grab genommen hatte? Auch er war seltsam einsilbig geworden, wenn das Gespräch auf seine Vergangenheit kam.
»Ich hab mich durchgerungen«, sagte Sabrina und trank ihre Tasse Kaffee leer. Es klang nach Aufbruch. »Zum Quartalsende mach ich den Laden dicht.«
»Du meinst, du willst verkaufen«, stellte ihre Tochter klar.
»Ja, natürlich. Genauso, wie wir dies die letzten Tage besprochen haben. Ich bin jetzt davon überzeugt. Spätestens seit gestern.«
Silke sah sie von der Seite an. »Es ist die einzige Lösung, von all dem wegzukommen«, sagte ihre Mutter. »Ich werd inserieren und du könntest mich, was das Internet betrifft, unterstützen. Ich kenn mich ja nicht so gut aus.«
Silke lächelte aufmunternd. Vermutlich würden sie ein paar 1000 Euro für das Geschäft erzielen. Immerhin konnten sie auf einen guten Kundenstamm verweisen. So etwas gab man nicht einfach an einen Nachfolger weiter, ohne sich dies bezahlen zu lassen.
Die Tochter wollte gerade etwas sagen, als das Mobilteil des Telefons klingelte, das in Reichweite auf einem Schränkchen lag. Sabrina griff danach, meldete sich und lauschte ein paar Sekunden gespannt. »Das ist ja furchtbar«, entfuhr es ihr, was Silke sofort zum Anlass nahm, zu ihr rüberzukommen und das linke Ohr dicht an den Hörer zu pressen, um mithören zu können.
»Eingebrochen, ja«, hörte sie eine Frauenstimme sagen. Vermutlich war es eine Angestellte aus dem Betrieb. »Aber ihr ist nichts passiert. Kam gerade im Radio.«
Silke überlegte, um wen es sich handeln könnte.
»Und wer es war, weiß man nicht?«, hakte ihre Mutter nach.
»Anscheinend nicht. Und noch etwas. Hat Sergije eigentlich heute frei?«
Sabrina stutzte. Und auch Silke war irritiert. »Nein, wieso?«, fragte Sabrina.
»Er ist nicht da«, erklärte die Angestellte.
Auch heute konnte Häberle jenes Gefühl nicht unterdrücken, das ihn jedes Mal beim Überqueren der einstigen deutsch-deutschen Grenze überkam. Zwar gab es entlang der Autobahn nirgendwo mehr eine Spur davon, doch musste er unweigerlich an die paar Fahrten denken, die er mit dem Wohnmobil nach Westberlin gemacht hatte. Jedes Mal war ihm beim Anblick der Grenzanlagen inmitten Europas ein Schauer über den Rücken gelaufen. Irgendwann, so hatte er damals befürchtet, würde es deshalb wieder einen großen Krieg geben. Umso mehr genoss er es, diesen einstigen Todesstreifen jetzt einfach mit 130 km/h überqueren zu können. Seit einer halben Stunde gähnte er hemmungslos, weshalb er das nächstgelegene Rasthaus bei Plauen ansteuern wollte.
Plauen oder genauer gesagt »Vogtland Süd« war ohnehin in den Akten
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