Schattennetz
Kugelschreibers hinein- und herausspringen. »Herr Korfus hat sich an Sabrina herangemacht«, formulierte es die wortgewandte Ursula Schanzel und sah die beiden Kriminalisten mit ihren großen dunklen Augen an. »Und Frau Simbach hat seine Gefühle eine Zeit lang erwidert. Denn …« – die Kirchengemeinderätin wollte gleich gar keine Nachfrage ermöglichen – »… ihr Ehemann, der Alexander Simbach, war alles andere als ein fürsorglicher Familienvater und Ehemann. Was man im Übrigen auch von Torsten Korfus gleichermaßen sagen kann. Obwohl er sich gegenüber Sabrina offenbar ganz anders verhalten hat. Aber wie das halt so ist mit Männern …«
Linkohr hatte es nicht gewagt, während diesen Aussagen Notizen zu machen. Er befürchtete, die Frau hätte ansonsten ihren Redefluss unterbrochen.
»Hinzu kommt«, fuhr Frau Schanzel fort, als habe sie die Sprecherrolle übernommen, »dass die beiden Männer ihre Vergangenheit nie bewältigt haben.« Sie umklammerte die Armlehnen des Stuhles, was ihre Entschlossenheit irgendwie unterstrich. »In gewissem Sinne lässt sich dies sicher psychiatrisch oder psychologisch erklären. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es mit Sicherheit vielen Männern ähnlich ergangen. Plötzlich ist ihnen bewusst geworden, dass sie Menschen erschossen haben – nicht einfach Soldaten, wie man ihnen dies eingebläut hatte. Nein, hinter der fremden Uniform, dem fremden Flugzeug, dem fremden Schiff, da steckte immer ein Mensch, der genauso gerne noch eine Weile gelebt hätte wie man selbst. Solange man aber Teil einer Militärmaschinerie oder eines Regimes war, fehlte das Gefühl, für jeden Schuss verantwortlich zu sein. Erst daheim, allein und auf sich selbst gestellt, dazu noch in einer Gesellschaft, die von all dem nichts mehr wissen wollte, obwohl die Männer selbst dieser Gesellschaft angehörten, da taten sich viele schwer mit dem, was durch ihre Hände angerichtet wurde.«
Fludium nickte, denn er musste an seinen Vater denken, der auch im Krieg gewesen war.
»Ich will bei Gott nichts verteidigen, was Alexander und Torsten getan haben«, betonte Ursula Schanzel, während Liliane neben ihr jetzt hemmungslos weinte. »Aber dass nach allem, was sie erlebt haben, alte Feindschaften ausgebrochen sind, wird angesichts dieses Hintergrunds deutlich. Inzwischen wissen wir …« Sie hielt für einen Moment inne. »Ja, wir wissen, dass Torsten in den 80er-Jahren Todesurteile vollstreckt hat.« Liliane verbarg ihr Gesicht in den Händen. Auch über Sabrinas Gesicht rannen jetzt Tränen. Wut und Zorn, Enttäuschung und Entsetzen brachten ihren Puls zum Rasen.
»Alexander Simbach«, so fuhr Frau Schanzel fort, nachdem auch sie davon überzeugt war, nun alles darzulegen, was sie, ihre Tochter Kerstin, Silke und die Dekanin in den vergangenen Tagen recherchiert hatten. »Der hat, so heißt es allerdings in amtlich nicht bestätigten Berichten, als Grenzsoldat an der innerdeutschen Grenze gedient und einen Flüchtling erschossen.«
Die beiden Kriminalisten hörten atemlos zu. Linkohr überlegte, weshalb es ihnen nicht gelungen war, derartige Informationen bereits zu einem frühen Zeitpunkt zu erhalten. Aber offenbar funktionierte die Kommunikation innerhalb der Kirche besser als bei der Polizei. Schließlich mussten die Ermittler stets bürokratische Wege einhalten und sich an die datenschutzrechtlichen Bestimmungen halten, die auch im Umgang mit ehemaligen DDR-Akten enge Grenzen setzten. Die Kirche und ihre Friedensbewegung hingegen hatte in den letzten Monaten und Wochen des Regimes offenbar entsprechendes Material gesammelt, das – weil privat erhoben – natürlich nicht dem behördlichem Zugriff unterlag.
»Wir gehen mal davon aus, dass die beiden Männer zum Zeitpunkt der Wende orientierungslos waren.« Wieder schien Frau Schanzel ihre Worte wohl bedacht gewählt zu haben. Linkohr und Fludium dachten an das, was Häberle nach dem Gespräch mit der Dekanin berichtet hatte. Die Frau schöpfte ihre Kenntnisse wohl aus denselben Quellen. »Alte Animositäten brachen spätestens auf, als diese …« Es fiel ihr schwer, Formulierungen zu finden, mit denen die beiden Frauen nicht verletzt wurden. »Ja, als diese Beziehung anfing, von der wir alle wissen. Und als klar geworden war, dass Frau Korfus von Anton Simbach eingesperrt worden ist.«
Die entstehende Stille wurde nur vom Scheppern einiger Flaschen gestört, das von draußen hereindrang.
»Und nun scheint es so, dass die Situation eskaliert
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