Schattennetz
Linkohr das aufgeschlagene Telefonbuch über den Tisch. »Hat sein Büro auf dem Gelände der ehemaligen Firma Süd-Tank, draußen in Eybach.« Linkohr grinste. In diesem Stadtteil hatten er und Häberle vor Jahren ihren allerersten Fall gehabt.
Auch Häberle musste daran denken, ohne etwas dazu zu sagen. »Hat er Angehörige?«, wollte er stattdessen wissen.
»Die Kollegen sind gerade dabei, dies festzustellen.«
»Vor allen Dingen müssen wir wissen, was der Herr Czarnitz da oben gewollt hat und wie er überhaupt raufgekommen ist.« Häberle sah auf seine Armbanduhr und entschied: »Wir stellen eine Sonderkommission zusammen. Informieren Sie Maggy.« Gemeint war die neue Kripochefin, deren Spitznamen ihr längst vorausgeeilt war. Linkohr grinste. Endlich durfte er direkt mit der Leitung des Hauses sprechen. Unter Bruhn hätte es das nicht gegeben.
»Sie haben im Turm schon Spuren sichern lassen?«, vergewisserte sich Häberle.
»Kollegen waren heut früh oben, ja«, erklärte Linkohr. »Aber natürlich noch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Stromschlags. Sie haben Spuren am Liegeort der Leiche, am Fußboden und auf der Treppe gesichert – aber wohl nichts Verwertbares gefunden. Außer viel Staub und einige Schuhabdrücke, was aber kein Wunder ist bei den vielen Personen, die in den letzten Tagen da oben waren. Vom Leichenbestatter bis zu den beiden Opfern und diversen Kirchenmenschen.«
»Mal angenommen«, überlegte Häberle, »der Doktor Kräuter in Ulm hat sich nicht getäuscht, was wohl weitere Untersuchungen zeigen werden, dann muss da oben irgendetwas unter Strom gestanden haben.«
»Davon ist auszugehen. Was bei dem vielen Metall im Glockenstuhl auch kein Problem sein dürfte.«
»Mit einem Schönheitsfehler nur«, warf Häberle ein. »Wenn da etwas unter Strom stehen würde, hätts schon wesentlich mehr Tote geben müssen. Offenbar sind doch in den vergangenen Tagen jede Menge Personen da oben gewesen.« Der Chefermittler war in Gedanken allerdings schon einen Schritt weiter, wartete aber darauf, ob sein junger Kollege zu einem ähnlichen Ergebnis kommen würde.
»Es muss ja nicht immer Strom geflossen sein«, antwortete der prompt – und Häberle war zufrieden. »Die Kollegen der Spurensicherung müssen noch mal ran«, sagte er. »Und sie sollen einen Stromexperten hinzuziehen. Ich will eine genaue Untersuchung der elektrischen Anlagen.« Dann erhob er seinen kräftigen, aber dennoch durchtrainierten Körper – schließlich war er Judoka-trainer –, um sich endlich ein eigenes Bild vom Tatort zu verschaffen. Er war keiner, der nur am Schreibtisch saß und die Arbeit delegierte. Nur, wer die Örtlichkeiten kannte, so pflegte er immer zu sagen, wer sich jedes Detail einprägte und die Atmosphäre auf sich wirken ließ, konnte das Geschehene auch nachvollziehen.
Als er bereits das Büro verlassen wollte, klingelte Linkohrs Telefon. Der junge Kollege lauschte dem Anrufer, bedankte sich kurz und legte wieder auf.
»Sie haben sie gefunden«, erklärte er ernst.
Lokaljournalist Georg Sander hatte während des Stadtfestwochenendes von einem seltsamen Todesfall im Kirchturm munkeln hören. Niemand jedoch war bereit oder willens gewesen, ihm detaillierte Informationen zu geben. Alle stadtbekannten Persönlichkeiten und solche, die sich dafür hielten, flüchteten sich in allgemeine Formulierungen und behaupteten, auch nur Gerüchte zu kennen. Selbst Polizeirevierleiter Watzlaff musste ehrlicherweise passen. Doch jetzt, nachdem an diesem Dienstagvormittag seit Stunden ein Hubschrauber knatterte und gleich hinterm Verlagsgebäude, das direkt an die Stadtkirche grenzte, mehrere weiße Kombis parkten, die den erfahrenen Journalisten sofort an Zivilfahrzeuge der Polizei erinnerten, bestand gar kein Zweifel mehr, dass etwas geschehen sein musste. Er entschied, mal wieder nicht den Umweg über Polizeipressesprecher Uli Stock zu nehmen, der ihm aus dem fernen Göppingen ohnehin nur gesagt hätte, dass der Einsatz vor der Haustür des Verlagsgebäudes streng geheim und demzufolge noch nichts für die Medien sei.
Sander eilte durch den Hinterausgang direkt zum regennassen Kirchplatz, wo er einen kurzen Moment zögerte. Unterm Vorbau des Südportals erspähte er die Dekanin, die sich mit einem Kripobeamten unterhielt, dessen Name ihm aber nicht einfallen wollte. Sander überlegte, ob es klug war, das Gespräch zu stören, zumal die Dekanin, wie er mehrfach schon gespürt hatte, auf ihn nicht gerade gut
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