Schattenprinz 01 - Der Prinz der Schatten
Schwester sah ihm nachdenklich ins Gesicht, als versuchte sie, seine Gedanken zu erraten. Dann fuhr sie mit einem Achselzucken fort: » Die Bruderschaft der Schatten ist gefürchtet und verfemt, denn anders als die anderen magischen Schulen hat sie die Große Vereinbarung nie unterzeichnet. Niemand kennt ihre Verstecke, und ihre Mitglieder bleiben verborgen. Vielleicht hast du auch das vergessen, vielleicht weißt du aber auch noch, dass alle Magier Zeichen auf der Stirn tragen müssen, damit die Menschen sie als Zauberer erkennen. Selbst die Kräuterhexen in den armseligen Dörfern dieser Gegend malen sich einen blauen Strich auf die Stirn, und die großen Orden haben magische Linien, die mit der Kunstfertigkeit ihrer Träger wachsen. Die Schattenbrüder tragen solche Zeichen jedoch nicht.«
» Magie«, murmelte Sahif.
» Die Abneigung der Schatten gegen diese Kennzeichnung ist nicht verwunderlich, wenn man die Art ihrer Kunst kennt«, sagte Shahila, und als sie seinen fragenden Blick sah, schüttelte sie den Kopf und fügte hinzu: » Muss ich dir sogar das Offensichtliche erklären? Mörder sind sie, Diebe, Räuber, Spione, die sich ungesehen in die stärkste Festung schleichen und selbst die am besten bewachten Fürsten töten.«
Nein, das musste sie ihm nicht erklären, er wusste es, aber er wollte es nicht wahrhaben. » Ich bin kein Mörder!«, zischte er.
Die Baronin sah ihn einen Augenblick an, dann lachte sie, hell und fröhlich. » Bist du dir sicher, Bruder? Nun, in der Tat hat unser Vater dich nicht zum Orden geschickt, damit du in seinem Auftrag irgendwo in der Fremde mordest, nein, ganz im Gegenteil, du warst für vier Jahre sein Leibwächter.«
Sahif hob den Kopf. Das klang schon viel besser. » So habe ich also nur unseren Vater beschützt?«
Sie lachte verächtlich. » So kannst du es nennen. Es wird über diese Dinge nicht geredet, aber ich weiß von wenigstens zwei Gelegenheiten, bei denen tapfere Männer versuchten, unseren Vater Akkabal zu ermorden. Du hast sie daran gehindert, und du darfst nun raten, wie du sie aufgehalten hast.«
» Ich habe sie … getötet?«, fragte er mit flacher Stimme.
» Du sagst es.«
» Ich erinnere mich nicht«, sagte er leise. Aber plötzlich sah er Bilder aus der Finsternis aufsteigen, Bruchstücke nur, einen dunklen Gang, einen bärtigen Mann mit durchgeschnittener Kehle, der ihn ungläubig anblickte, während ihm Blut über die Lippen trat. Sahif schüttelte den Kopf, um diese Bilder loszuwerden. Hatte er das wirklich getan?
» Es ist seltsam. Du scheinst deine Erinnerung verloren, aber so etwas wie ein Gewissen gefunden zu haben«, sagte seine Schwester kühl.
Er starrte auf den Boden. Er war also ein Mörder? Aber nein, wenn er nur seinen Vater verteidigt hatte, dann war das doch etwas anderes, oder?
Ein kalter Wind fuhr durch das Fenster und ließ die Flamme der Kerze flackern. Shahila zog den Kragen ihres Mantels höher, lehnte sich zurück und betrachtete ihren Halbbruder. Die überhebliche Selbstsicherheit, die ihm wie den meisten ihrer Brüder zu eigen gewesen war, schien völlig verschwunden. Sie war sich noch nicht sicher, ob er ihr so besser gefiel, vor allem aber, ob er in diesem Zustand noch für ihre Pläne taugte. Ein Gewissen? Nach dem Wenigen zu urteilen, was Almisan ihr erzählt hatte, war es das Erste, was man den Schülern in der Bruderschaft austrieb. Wer die harte Ausbildung überlebte, sollte weder Skrupel noch Mitleid kennen. Sie legte Sahif in einer mitfühlenden Geste die Hand auf den Arm, aber eigentlich tat sie es mehr, um sich zu vergewissern, dass er kein Geist war, so fremd und unwirklich erschien er ihr.
» Wie viele habe ich getötet?«, fragte er jetzt düster.
» Vierzehn oder fünfzehn, soweit ich weiß. Wenigstens einen davon mit bloßen Händen, wie man sich erzählt. Es heißt, du seist deinen Pflichten recht … entschlossen nachgegangen. Und ich weiß natürlich nicht, was du getan hast, wenn du nicht über unseren Vater gewacht hast.«
Sie wusste es wirklich nicht, aber sie genoss es, durch diese Andeutungen weiteres Salz in seine Wunden zu reiben. Sie hatte ihm in vielen, aber nicht in allen Punkten die Wahrheit gesagt. Ja, man hatte ihn fortgegeben, aber erst, nachdem seine Mutter gestorben war, und ja, ihr Tod war kein Unfall, es war aber auch kein Selbstmord gewesen.
» Und was tue ich nun hier?«, fragte ihr Bruder matt.
Shahila musterte ihn nachdenklich. Wie unsicher und schwach er war; in gewisser
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