Schattenprinz 01 - Der Prinz der Schatten
Schänke gewesen. Er hatte gehandelt, oder vielmehr irgendetwas in ihm hatte für ihn gehandelt, etwas, das aus der Finsternis seines vergessenen Inneren kam. Der Rausch war verflogen, und er hatte keine Ahnung, keine Erinnerung, wie er seine erstaunlichen – nein, seine erschreckenden – Taten bewerkstelligt hatte.
» Verstehe, so eine Art Gauklergeheimnis, wie?«, sagte der Kehrer mit einem verschwörerischen Grinsen. » Verrätst du mir wenigstens deinen Namen, Freund?«
» Anuq.« Der Kehrer hielt ihn für einen Gaukler? War er vielleicht am Ende doch einer? Waren Gaukler in der Lage, so leicht und so kaltblütig Männer abzuschlachten? Nein, wohl kaum.
» Ich bezweifle, dass das dein richtiger Name ist, Freund, doch soll es meinethalben so sein. Mich kannst du Habin nennen, oder Reisig, wie es die Atgather tun.« Er grinste noch breiter.
» Und wo bringst du mich hin, Habin?«
» Es gibt jemanden, der dich sicher kennenlernen will, Freund.«
» Hier unten? Was ist das überhaupt für ein Ort?«
» Alte Gänge, es gibt sie unter der ganzen Stadt, ziemlich nützlich für unsereins. Aber frag mich nicht, wer sie angelegt hat, oder warum. Doch komm jetzt, wir haben einen weiten Weg vor uns.«
Anuq zögerte. Der Mann hatte ihm geholfen, ihn vermutlich sogar gerettet, aber er traute ihm dennoch nicht. Und er wusste nicht, was mit Ela geschehen war. » Ich muss zurück. Ich war nicht allein, verstehst du?«, sagte er.
» Noch jemand, den die Wachen suchen? Da können wir dir vielleicht helfen. Wir haben überall in der Stadt Augen und Ohren. Wenn dein Kumpan sich irgendwo versteckt, werden wir es erfahren.«
Der Namenlose hielt es noch nicht für nötig zu erwähnen, dass es sich um ein Mädchen handelte. Es schien ihm ratsam, vorerst möglichst wenig preiszugeben. Aber er konnte Ela nicht im Stich lassen. » Ich muss zurück«, erklärte er.
Habin trat näher an ihn heran. In seinem Blick lag jetzt etwas ausgesprochen Tückisches. » Höre, Freund, die Wache sucht nach dir, und da oben bist du nicht sicher. Und wenn du verhaftet wirst und meinen Namen nennst – nein, das wollen wir doch nicht, oder? Du bist fremd, wenn ich das richtig sehe, kennst dich nicht aus in Atgath. Du brauchst Freunde, und ich biete dir meine Freundschaft an. Ich hoffe, du bist so klug, sie anzunehmen. Ich war so großzügig, dich zu retten, nun kannst du ruhig so großzügig sein, mir ein oder zwei Stunden deiner kostbaren Zeit zu opfern. Ich will dich nämlich jemandem vorstellen. Wart’s ab, ehe du dich versiehst, hast du lauter gute Freunde in unserer schönen Stadt.« Dann grinste er wieder breit. » Es muss dein Schaden nicht sein, Anuq, ganz gewiss nicht.«
» Und wer ist das, zu dem du mich bringen willst?«
» Lass dich überraschen, aber jetzt komm und gib auf deinen Schädel acht, diese alten Stollen sind manchmal recht niedrig.«
Anuq nickte. Die Sache gefiel ihm nicht, aber er würde vorerst mitgehen und dann sehen, was dabei herauskam. Er machte sich allerdings Gedanken um Ela. Sie waren getrennt worden, und er hatte keine Ahnung, ob sie entkommen war.
Ela schaute bedrückt zu Boden. Ihre Wange schmerzte, ihre Hände waren mit Stricken gefesselt, und ihr zerrissenes Hemd hing halb über der Schulter. Sie hätte es gerne hochgezogen, wagte aber nicht, sich zu bewegen. Sie stand schutzlos auf der Straße und wurde von sechs Soldaten und Leutnant Aggi bewacht. Inzwischen hatte sich eine Menschentraube gebildet und gaffte sie an. Noch nie in ihrem Leben hatte sich Ela so gedemütigt gefühlt. Der Hauptmann hatte seinen Leuten noch keinen Marschbefehl erteilt. Er lehnte in der Tür, Blut quoll dunkel durch den Verband. Er litt offensichtlich unter großen Schmerzen, aber dennoch grinste er sie höhnisch an. Jetzt erst begriff sie, dass er seine Leute absichtlich warten ließ. Er wollte, dass die ganze Stadt ihre Schande sah, er genoss es, die Tochter seines alten Feindes zu demütigen. Endlich gab er dann doch das Zeichen zum Abmarsch, aber nur, weil der Wirt des Henkers ihn drängte, sich drinnen weiterbehandeln zu lassen: » Meinetwegen könnt Ihr auch ruhig verbluten, Hauptmann, aber nicht auf meiner Schwelle!«, sagte er.
Sie setzten sich in Bewegung. Ela hielt den Blick auf das Pflaster gerichtet, denn sie wollte nichts von der Welt sehen oder hören. Das Blut, sie hatte immer noch das Blut dieses Widerlings an sich. Sie versuchte unbeholfen, es mit ihren gefesselten Händen abzuwischen, aber es gelang nicht.
Weitere Kostenlose Bücher