Schattenprinz
fest, wie mir scheint.«
Mit einem Nicken sank Gareth auf seinen Stuhl zurück. »Ich weiß. Es fällt mir schwer, das Instrument zu spüren.« Er ballte die Faust.
Als Adele das Buch auf dem Tisch betrachtete, fiel es ihr leicht, den Teil der Seite zu finden, den er abgeschrieben hatte. Die Nachahmung war perfekt. Er hatte die detaillierten Initialen bis zum letzten Schnörkel kopiert.
»Du bist ein ziemlich guter Zeichner«, sagte Adele.
Er schüttelte den Kopf. »Ich schreibe.«
Sie schob das Buch wieder zu ihm zurück. »Na ja, du malst ab. Aber wie du den Text kopiert hast, ist bemerkenswert. So präzise. Sehr kunstfertig.«
»Dann ist das hier … Kunst?« Gareth nahm ihr das zerrissene Blatt Papier ab.
»Nun, nein. Noch einmal, es ist eine Kopie. Kunst ist, etwas zu erschaffen, beispielsweise einen Text. Der Mensch, der diese Worte ursprünglich schrieb, war ein Schriftsteller, aber alle anderen, die sein Werk kopieren, betrachtet man nicht als Schriftsteller.« Sie verstummte kurz und lächelte. »Als Plagiatoren eigentlich, aber das ist ein völlig anderes Thema.«
»Ich bin verwirrt.« Er legte die Feder nieder. »Erklär es mir. Was ist der Unterschied zwischen diesem Buch und dem, was ich geschrieben habe? Beides sieht exakt gleich aus.«
Adele setzte sich. »Du musst lernen, deine eigenen Worte zu schreiben, deine eigenen Gedanken. Hier …« Sie deutete auf sein Blatt Papier. »Du hast nur mit den Worten von jemand anderem gesprochen, als würdest du eine Geschichte wiedererzählen. Du hast geschrieben, aber nichts erschaffen.«
»Aber das habe ich doch.« Frustriert hielt er das zerknüllte Blatt hoch. »Ich habe es eigenhändig geschrieben. Ich habe Tausende Male gesehen, wie Menschen das getan haben. Als Greyfriar überbringe ich ihnen Botschaften, und sie schreiben sie auf. Genauso, wie ich es hier getan habe.« Er wirkte verwirrt und wütend. »Das ist etwas erschaffen. Die Botschaft stammt von mir.«
»Das ist nahe dran. Du kennst diese Buchstaben, und du weißt, wie du sie lesen musst. Also kannst du auch deine eigenen Worte mit diesen Buchstaben erschaffen. Denk an etwas und schreib es auf. So einfach ist das.«
»Wovon redest du?«
Adele seufzte in milder Verzweiflung. »Wenn du deine Gedanken selbst niederschreibst, dann kann deine wahre Stimme von anderen gehört werden, anstatt durch jemand anderen verwässert zu werden. Das gesprochene Wort hat stets die Eigenart, verdreht zu werden. Beson ders wenn es von einer Person zur anderen weitergegeben wird. Wenn deinesgleichen schreiben würden, könntest du Ereignisse bleibend dokumentieren. Andere könnten deine Ideen so lesen, wie du sie gemeint hast.«
»Vampire würden sich nie die Mühe machen, meine Worte lesen zu lernen. Sie verstehen nur den Laut, das gesprochene Wort.« Gareths Tonfall klang bitter.
Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, beugte sich Adele zu ihm vor. »Weißt du, die Menschen hatten einst auch eine rein mündliche Überlieferung. Erst mit der Erfindung von Buchstaben wie in diesem Alphabet …« Sie deutete auf das Buch. »… entstand Schrift. Früher hatten wir Dichter und Barden, die von Stadt zu Stadt reisten, um uns Neuigkeiten und Geschichten zu erzählen. Aber das Schreiben befreite das Leben eines Textes vom Augenblick der Äußerung. Jetzt kann jeder die Geschichten eines Dichters genießen, wann er will, anstatt darauf warten zu müssen, dass der Dichter wieder vorbeikommt.«
»Warum hat eure Art das Schreiben erfunden?« Ehrfürchtig strichen seine langen Finger über die Buchstaben im Buch.
Adele wünschte sich, ihrer Geschichte mehr Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, doch sie wagte sich tapfer weiter. »Kulturelle Veränderungen, schätze ich – hauptsächlich sozial, politisch und wirtschaftlich. Ein Bedürfnis, geschäftliche Transaktionen zu dokumentieren.«
»Meine Kultur wähnt sich all dem überlegen«, bemerkte er verbittert. »Wir haben keine Wirtschaft. Deshalb haben wir auch nicht das Bedürfnis, eine geschriebene Sprache zu schaffen.«
»Um die Trommeln der Veränderung zu schlagen, ist nur ein Einzelner nötig, Gareth.«
Er hob den Kopf und sah Adele mit seinen hellen blauen Augen direkt an. Sein Blick war heimgesucht von Leidenschaft und Entschlossenheit. Unvermittelt erkannte die junge Frau, dass Gareth eifersüchtig auf die Menschen war. Er wünschte sich so sehnlichst, etwas anderes als ein Vampir zu sein. Einen Augenblick lang fand sie diese Erkenntnis schwer zu
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