Schattenprinz
fest. Sie griff nach der schweren, eisernen Klinke und zog die Tür behutsam auf. Zuerst war es dunkel im Innern, doch nachdem sie es durch den ersten Bogengang geschafft hatte, öffnete sich die Kammer zu einer breiten, langen Höhle mit hoch angesetzten Fenstern. Die meisten davon waren zerbrochen, was mehr Licht auf den Boden fallen ließ. Scherben der Buntglasfenster lagen auf den kalten Steinen, und sie bückte sich und versuchte herauszufinden, welches Bild sie einst dargestellt hatten. Sie konnte ein Gesicht oder ein Symbol erkennen.
Schließlich streckte sie sich und wanderte zum Altar, wo ihr ein silbernes Funkeln ins Auge fiel. Es war ein kleines Kreuz an einer Kette, beinahe völlig unter grauem Staub verborgen. Lächelnd holte sie es aus seinem Versteck. Sie entschied, dass es ein Zeichen war, und kniete sich vor den Altar, um ein kleines Dankgebet für den Schutz, der ihr während dieser ganzen schweren Prüfung zuteilgeworden war, zu sprechen. Und ein Gebet der Hoffnung für die Zukunft, wohin sie sie auch immer führen mochte.
Draußen fuhr Gareth jäh zurück. Gänsehaut überzog seinen Körper. Er konnte sich nicht erinnern, an diesem Ort jemals zuvor eine solche Kraft gespürt zu haben. Manchmal, wenn die Menschen in St. Giles, der anderen Kirche, Zeremonien abhielten, konnte er fühlen, wie Wellen der Wärme davon ausgingen, die er als unangenehm empfand. Doch noch nie etwas wie das hier. Die Kraft versengte ihn, und es fiel ihm schwer zu atmen. Der Druck in Gareths Kopf stieg an, bis er gezwungen war, sich aus dem Friedhof zurückzuziehen. Sobald er das Tor passiert hatte, ließ die Qual nach. Er holte tief Luft. Unbewusst begann er, unruhig auf und ab zu laufen, während er auf Adele wartete. Nach mehreren Minuten, als sie immer noch nicht wieder herausgekommen war, trat Gareth ein weiteres Mal auf das große Tor zu, nur um das starke Unbehagen wieder anschwellen zu spüren. Er hielt inne, und ein tiefes Knurren kam ihm über die Lippen. Gerade wollte er besorgt wegen Adeles langer Abwesenheit dennoch über die Schwelle stürmen, als sie endlich ins diffuse Sonnenlicht heraustrat.
Beklommen sah sie sich um, beruhigte sich jedoch wieder, als sie Gareth außerhalb des Tores stehen sah. Es überraschte sie, dass er bei ihrem Näherkommen zurückwich.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie.
»Nein, nein. Alles in Ordnung.« Kaum merklich wandte er den Kopf ab. Ihr Geruch war scharf, genau wie damals in Canterbury, als er sie beinahe besinnungslos auf den Stufen der Kathedrale gefunden hatte. »Du warst lange fort. Ich war … beunruhigt.«
»Oh, ich bin nur geblieben, um ein kleines Gebet zu sprechen.« Sie betastete das silberne Kreuz, das in ihrer Tasche steckte.
»Ich verstehe.« Seine Haltung verriet eine Spur von Schmerz und Unruhe.
»Geht es dir gut?«
Der Prinz nickte knapp. »Ja.«
»Würdest du gern noch mehr von den Grabsteinen lesen?« Sie trat auf den Friedhof zu, doch er folgte ihr nicht.
»Nein«, antwortete er, begierig darauf, von diesem Ort fortzukommen. »Lass uns woanders hingehen.«
Adele lächelte. »Ich habe nichts dagegen.« Sie nahm seine Hand, bevor er sich abwandte.
Mit einem schmerzerfüllten Fauchen, das seine Zähne entblößte, entriss er sie ihr. Auf seiner Haut glühten rote Blasen, die Adeles Finger hinterlassen hatten.
»Gareth«, rief sie besorgt und streckte instinktiv erneut die Hand nach ihm aus.
»Bitte, Prinzessin, bleib zurück. Bitte fass mich jetzt nicht an.«
»Warum? Was habe ich getan?« Dann verstand Adele. Sie hatte gebetet. Ihre Augen weiteten sich erstaunt. »Es tut mir leid. Mir war nicht bewusst …«
»Mir ebenso wenig«, antwortete er. »Du besitzt große Macht, Adele. Mehr als jeder, dem ich je begegnet bin.«
»Das ist neu für mich«, gestand sie.
Gareths Stirnrunzeln vertiefte sich, während die Wellen weiter von ihr ausstrahlten, und er bemühte sich, nicht noch weiter vor ihr zurückzuweichen. »Lass uns zur Burg zurückkehren.«
»Wie du willst. Vielleicht können wir ein anderes Mal wiederkommen, und dann lese ich dir mehr von den Grabsteinen vor.«
Dankbar dafür, dass das Unbehagen endlich nachließ, neigte er freundlich den Kopf. Er wollte ihr nahe sein, hielt jedoch Abstand. Schweigend gingen sie ein Stück, beide damit beschäftigt, das Ausmaß dessen zu erfassen, was gerade geschehen war.
Adele war hin- und hergerissen zwischen dem Schuld gefühl, Gareth Schmerz zugefügt zu haben, und der erstaunlichen
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