Schattenprinz
vor dem Großen Morden organisiert, allerdings noch nicht so starr wie heute.«
»Also haben diese Kreaturen schon immer unter uns gelebt?«
»Ja. Die Clans existieren schon seit Anbeginn der Zeit am Rande der menschlichen Welt.«
Mit leuchtenden, aufmerksamen Augen beugte sich Adele vor. »Und wie ist es jetzt? Wo liegt das Zentrum vampirischer Macht?«
Greyfriar schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht, Prinzessin. Jeder Clan hat seinen eigenen König und eigene Adelige. Manchmal vereinen sie sich in gemeinsamer Sache, wie sie es für das Große Morden getan haben, aber der Norden der Vampire ist keine Einheit. Und dabei sind die Clans in Amerika und Asien noch nicht einmal berücksichtigt.«
»Amerika und Asien kommen noch beizeiten. Es geht mir um Europa. Wenn Sie eine Armee hätten, wo würden Sie zuschlagen, um sie vernichtend zu treffen? Paris? Wien?«
Greyfriar stützte sich auf einen Tisch, die Finger weit gespreizt, wie bei einem Kriegsrat. »Paris ist dekadent. Ihr König starb vor Jahrzehnten, und ein Machtkampf hat sie dezimiert. Wien ist eine Totenstadt. Sogar die Vampire haben sie verlassen.«
»Wo dann? Wo schlägt das Herz ihrer Macht? In London?«
Der Schwertkämpfer schwieg gedankenverloren. »Vielleicht. London ist stark und geeint. König Dmitri behauptet seinen Thron. Seine Lords sind ihm gegenüber loyal. Oder gegenüber Dmitris Sohn Cesare.«
»Cesare. Den Namen habe ich schon einmal gehört«, sagte Adele.
»Ich bin sicher, das würde ihm gefallen. Während des Großen Mordens übernahm er die Kontrolle über den britischen Clan, den er weiterhin durch seinen Vater Dmitri regiert. Es gibt noch einen älteren Sohn, Gareth, aber der ist nicht von Bedeutung. Cesare ist der wahre Herrscher. Er war derjenige, der alle Männer, Frauen und Kinder in Irland abschlachten ließ.«
»Mein Gott!«, flüsterte sie. »Darüber habe ich gelesen. Kann das wahr sein? Es erscheint mir wie eine unmögliche Tat der Grausamkeit.«
»Es ist wahr. Es gibt keine Tat, die zu grausam für Cesare wäre. Es leben immer noch fast keine Menschen in Irland.« Der Schwertkämpfer hob den Blick zu Adele und schwieg kurz, bevor er sagte: »Dann ist Ihnen nicht bewusst, dass es Flay war, die das Gemetzel in Irland anführte.«
»Die, die mich jagt?« Adeles Stimme schien von weither zu kommen.
»Genau die. Es tut mir leid. Aber seien Sie versichert, dass ich Sie beschützen werde.« Abrupt drehte sich Greyfriar um. »Ich muss jetzt gehen.«
»Was? Wohin gehen Sie?« Sie hatte alle verloren, denen sie vertrauen konnte – Simon und Anhalt –, und nun verließ Greyfriar sie ebenfalls.
»Die Gegend auskundschaften.«
»Aber Sie kommen doch zurück, nicht wahr?« Adele wusste, dass sie verzweifelt klang, und sie hasste es. Mit einem Mal war Angst in ihr wie ein lebendiges Wesen, und sie hatte sie schon so lange im Zaum gehalten, dass es nun unmöglich schien, sie noch länger zu kontrollieren.
»Ja, ich komme zurück.«
»Natürlich.« Adele setzte sich ein wenig aufrechter hin. »Es tut mir leid. Ich höre mich an wie ein verlorenes kleines Mädchen.«
Den Kopf etwas schräg geneigt, betrachtete Greyfriar sie. »Dazu haben Sie auch das Recht. Sie haben eine Menge durchgemacht. Die Angst wird mit der Zeit nachlassen. Schämen Sie sich nie Ihrer Angst. Benutzen Sie sie als Waffe. Lassen Sie sich von ihr Kraft und Entschlossenheit verleihen. Ich habe gesehen, wie Ihnen das in den letzten Tagen gelungen ist. Sie sind viel stärker, als Sie glauben.«
Adele lächelte dankbar für seine Worte. Sie drängten ihre Beklommenheit zurück, bis sie wieder erträglich wurde. »Sie verdienen eine Belohnung für Ihre eigene Tapferkeit. Ich könnte meinem Vater raten, Ihnen den Titel eines Herzogs zu verleihen. Wären Sie gerne der Vizekönig von Somaliland?« Ihr Lächeln wurde breiter, mit einem Hauch persönlicher Heiterkeit, beinahe wieder wie das kleine Mädchen. »Oder wir könnten Ihnen einen Palast schenken. Wir könnten Lord Kelvin aus seinem herauswerfen. Er ist furchtbar verdrießlich, aber er besitzt ein wunderschönes Herrenhaus in der Rue Victoria. Es hat einen Garten mit …«
Greyfriar hielt eine behandschuhte Hand hoch und lachte, ein tiefes Poltern in seiner Brust. »Vielen Dank für das Angebot, aber ich brauche keinen Palast.«
»Ich wünschte, Simon hätte Sie kennenlernen können, den legendären Greyfriar. Er wäre völlig aus dem Häuschen gewesen.« Die Prinzessin blickte aus dem offenen
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