Schattenprinz
Fenster und fühlte sich zu der Schlacht und dem schlaffen Körper ihres armen Bruders zurückversetzt. »Ich konnte ihn nicht retten. Ich war so hilflos«, sagte sie leise, beinahe wie zu sich selbst.
»Im Gegenteil, ich habe noch nie gesehen, dass sich ein Mensch so gut gegen Vampire geschlagen hat.«
»Finden Sie?«
»Ja. Wie Sie diesen Vampir mit dem Säbel enthauptet haben, war erstaunlich. Selbst ich hätte Schwierigkeiten gehabt, ihn kommen zu hören, wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre. Aber Sie haben sich umgedreht und sauber und sicher zugeschlagen. Sie waren auf jeden Fall effektiver als Ihre Soldaten. Also, in welchen Disziplinen Sie auch immer unterrichtet werden, die kaiserliche Armee täte gut daran, sie ebenfalls zu erlernen.«
Seine Worte nahmen ihr etwas von ihren dunklen Schuldgefühlen. Adele streckte sich und schob den Teller mit dem Essen fort. Es hatte köstlich geschmeckt. Erstaunlich, wie einem einfache Kost nach einer Begegnung mit dem Tod so göttlich erscheinen konnte. Alles war ihr intensiver und aromatischer vorgekommen. All ihre Empfindungen schienen stärker und zugleich süßer zu sein.
Adele sah, wie der Schwertkämpfer mit mehreren Päckchen hantierte, die er neben der Tür abgestellt hatte. »Was ist in den Taschen?«
»Munition.« Fürsorglich streichelte Greyfriar über eines der Pakete. »Und ein Buch.«
»Ein Buch?« Neugier erhellte Adeles Gesicht.
»Ein Geschenk.« Er öffnete das Päckchen und nahm einen in Leder gebundenen Folianten heraus. »Ich hatte es hier verwahrt, aber nun nehme ich es wieder mit.«
»Was ist es denn für ein Buch?« Gespannt beugte sich Adele vor.
»Eine Abhandlung über Anatomie.« Der Mann öffnete das Buch und hielt es ihr hin.
Adeles Augen weiteten sich beim Anblick der meisterhaften Federzeichnung eines Leichnams, dessen Brust aufgespreizt war. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete die Prinzessin das Bild. »Was ist das?«
Greyfriar drehte das Buch zu sich herum und musterte das Sektionsbild. »Es ist Randolphs Traktat über Homo Nosferatii. Der beste Text über die Anatomie von Vampiren, wie mir gesagt wurde. Offensichtlich hat Dr. Randolph mehr Vampire seziert als jeder andere Mensch. An Ihrer eigenen Akademie der Wissenschaften übrigens. Er ist ein großer Gelehrter.«
»Sir Godfrey Randolph? Ja, ich bin ihm schon einmal begegnet. Er hat sich zur Ruhe gesetzt, aber ich glaube, er lebt in der Nähe von Kairo. Ich könnte es einrichten, dass Sie mit ihm sprechen.«
Nachdenklich beugte sich Greyfriar vor. »Ein großzügiges Angebot, aber nicht durchführbar. Vielen Dank. Sein Buch wird einstweilen genügen müssen.«
»Warum interessieren Sie sich für den Körperbau von Vampiren?«
Der Schwertkämpfer klappte das Buch zu und steckte es wieder zurück in seinen Rucksack.
»Man muss seine Feinde kennen.« Offensichtlich begierig aufzubrechen, legte er seinen Umhang um.
»Also mögen Sie Bücher?«, fragte Adele schnell.
»Ja. Bücher sind im Norden sehr selten.« Der Schwertkämpfer öffnete die Tür, hielt dann aber inne und drehte sich noch einmal zu ihr um. »Schlafen Sie gut heute Nacht. Ich werde bald zurückkommen.«
Dann war er fort. Augenblicklich verspürte Adele ein Gefühl des Verlustes, von dem sie instinktiv wusste, dass es albern war. Ihre große Zuneigung war nur den schrecklichen Umständen zuzuschreiben, die sie miteinander geteilt hatten, und seinen selbstlosen Taten zur Rettung ihres Lebens. Dennoch genoss sie die Empfindung. Sie war etwas, das sie noch nie so stark erfahren hatte. Er gab ihr das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Was in der heutigen Zeit eine erstaunliche Leistung war.
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A dele schreckte aus einem Albtraum hoch, in dem sie barfuß und allein durch Leichenhallen aus Schiffen lief und ihr die Schreie der Sterbenden in den Ohren gellten. Sie setzte sich im Bett auf und schlang die Arme um die Knie. Sie war vollständig angezogen, da sie sich zu verletzlich gefühlt hatte, um ihre Kleidung abzulegen.
»Es war nur ein Traum«, flüsterte sie. »Nur ein Traum.«
Das einfache Haus in Riez war still, kalt und dunkel. Adele wusste, dass sie noch ein wenig länger schlafen sollte. Greyfriar hatte die Nachricht von ihrem Überleben nach Equatoria geschickt, und bald würde sie eine Armee um sich haben, die einer ausgewachsenen Invasion in nichts nachstand. Ihr Vater würde kein Risiko eingehen. Vampire wären niemals so tollkühn, die gewaltige Streitmacht anzugreifen, die er aussenden
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