Schattenprinz
und Ratten immer noch ständige Gefährten waren, wurde ihr Dasein dadurch erleichtert, dass die beängstigenden und zermürbenden Befragungen durch Cesare aufhörten.
Im Laufe der ersten Woche kam Gareth einmal, um zu überprüfen, ob Adele es angenehm hatte, geisterte in den Räumen umher und inspizierte ihre Einrichtung, anscheinend auf Dankbarkeit oder Konversation erpicht. Sie weigerte sich, ihn zur Kenntnis zu nehmen, als er sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigte. Er gab sich damit zufrieden, sie auf eine Art und Weise anzustarren, die sie aus der Fassung brachte, weder aggressiv noch wütend, sondern stattdessen unnatürlich aufmerksam und neugierig. In seinem Blick lag der Versuch, eine persönliche Verbindung zu ihr aufzubauen, der Adele Angst machte und nicht ihre Person, sondern ihre Persönlichkeit bedrohte. Obwohl er sie nie nach ir gendeiner Art von politischer Information fragte, wollte er etwas von ihr. Entschlossen starrte sie in eine Ecke, bis Gareth seufzte und das Zimmer verließ.
Adele hatte seit Gareths Besuch niemanden mehr zu Gesicht bekommen, bis sie die Gestalt erblickte, die über den Hof in Richtung ihrer Räume ging. Verblüfft erstarrte sie am Fenster. Er war eindeutig ein Mensch, ein freier Mensch. Es gab Unterschiede, wie sich Vampire und Menschen bewegten und benahmen. Blutdiener hatten für gewöhnlich eine seelenlose, zusammengesunkene Haltung, doch dieser Mann ging mit hocherhobenem Kopf, wach und mit schnellem Schritt. Er trug das sandbraune, mit Grau durchzogene Haar lang und zu einem Pferdeschwanz im Nacken gebunden und hatte einen dichten und struppigen Bart. Er war nach Art eines Naturburschen gekleidet, sah aber eher aus wie ein Gelehrter, der gezwungen war, in der Wildnis zu leben, anders als ein echter Waldläufer wie Greyfriar. Alles, was er bei sich trug, war ein Rucksack über der Schulter und ein eigentümliches Gerät, das von seinem Gürtel baumelte und wie eine Kombination aus einem Sextanten und einem Astrolabium wirkte.
Vampire hockten auf den verwitterten Schieferplatten des Gebäudekomplexes und huschten durch die Luft. Sie konnten den Mann doch sicher sehen, er befand sich direkt vor aller Augen. Dennoch reagierten sie nicht. Die Anwesenheit der dunklen Unholde, die um ihn herum kauerten, beunruhigte den Mann, denn er warf ihnen häufig Blicke zu, während er über den Hof ging. Dennoch kam er näher, das Gesicht angespannt und von Anstrengung gezeichnet. Er konzentrierte sich so stark, dass es beinahe wehtun musste.
Ein Geomant. Mamoru hatte ihr erzählt, dass es Menschen gab, die gewisse geheime Künste beherrschten, die es ihnen erlaubten, von Vampiren unbemerkt zu bleiben. Sogar Greyfriar hatte das als Mythos abgetan. Doch unglaublicherweise schien dieser Mann genau das zu sein. Also gab es tatsächlich Spione, die in Großbritannien umherstreiften, so wie Cesare befürchtete. Dieser Gedanke brachte Adele zum Lächeln.
Als der Mann zum Fenster hochblickte und Adele sah, legte er einen Finger an die Lippen, um sie um Schweigen zu bitten. Dann begann er, den Berg aus Geröll hochzuklettern, der sich an die Mauer drängte. Unter seinem Fuß löste sich ein Stein und polterte laut zu Boden. Mehrere Vampire wandten sich um, die Köpfe geneigt wie wachsame Hunde. Ihre Blicke hefteten sich auf Adele am Fenster statt auf den Mann. Er verharrte völlig reglos, und die Prinzessin spürte, dass es wichtig war, ihn nicht anzusehen. Bald schon wandten sich die Vampire gleichgültig wieder ab, und der Mann kletterte weiter, langsamer und vorsichtiger nun, und prüfte jeden Tritt und Halt, bevor er sein Gewicht darauf verlagerte.
Als er eine Stelle nur gut einen Meter unterhalb von Adeles Fenster erreicht hatte, flüsterte er mit geschmeidigem alexandrinischem Akzent: »Eure Hoheit, sprechen Sie nicht!
Verzeihen Sie mir meine Impertinenz, aber ich kann es mir nicht leisten, dass Sie Aufmerksamkeit auf mich lenken. Mein Name ist Selkirk. Sehen Sie kurz her und dann wieder fort.«
Flüchtig warf Adele einen Blick nach unten. Selkirk hielt eine Hand hoch und enthüllte die Tätowierung eines sich windenden Drachens auf seiner Handfläche. Mamoru hatte eine ähnliche Zeichnung auf seiner linken Hand, zusätzlich zu einem Tiger auf der rechten. Adele durchlief ein heftiger Schauer bei diesem vertrauten und tröstlichen Anblick so weit von zu Hause entfernt.
»Mamoru ist mein Lehrmeister«, sagte der Mann. »Ich bin sein Geomant hier in Großbritannien.«
Adele war
Weitere Kostenlose Bücher