Schattenprinz
Geduld aufbringen, um nicht nach oben zu hasten. Stattdessen hielt sie ihr Tempo langsam und ruhig, dabei lauschte sie unablässig. Ihre Finger ertasteten jedes Detail der Stufen im Bemühen vorherzusagen, ob die Konstruktion unter ihr nachgeben würde.
Es dauerte ein paar Minuten, bis ihr bewusst wurde, dass sich die Schwärze in Grau verwandelte. Umrisse zeichneten sich in ihrem Blickfeld ab. Die Dunkelheit wich zurück. Tageslicht kroch durch Ritzen über ihr und warf seine Strahlen in ihre Richtung. Ihre Blindheit hatte ein Ende.
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A dele krallte sich ins Tageslicht empor. Die leblose Luft draußen erschien ihr beinahe rein nach dem erstickenden Gestank im Tunnel. Als sie sich orientierte, sah sie, dass Vampire in der Nähe umherstreiften. Die Prinzessin konnte nur hoffen, dass sie so zerlumpt und mutlos aussah, wie sie sich fühlte, denn sie musste wie der Rest ihrer unterjochten Art wirken. Sie taumelte, zum Teil vorsätzlich, und zum Teil aufgrund echter Erschöpfung, während sie sich nach Osten schleppte.
Langsam verdrängte Grün das trostlose Grau Londons. Adele gelang es, die Stadt zu verlassen. Sie hätte nie geglaubt, dass sie so weit kommen würde. Das Grün rief sie und machte ihre Schritte leichter, während die Stunden verstrichen. Es war rein und voller Leben, so gänzlich anders als die Stadt hinter ihr. Sie berührte die Blätter und Stämme der Bäume und genoss das Gefühl von etwas Lebendigem unter ihren Fingerspitzen. Es schien Jahrhunderte her zu sein, dass sie von solchen Dingen umgeben gewesen war. Sie bahnte sich ihren Weg durch Hecken und Gehölze, deren Blätterdach manchmal so dicht war, dass sie durch einen grünen Tunnel ging. Sie blieb stets in Deckung und mied offenes Feld. Wild wachsende Beeren halfen ihr, den schlimmsten Hunger zu stillen.
In der zunehmenden Dämmerung erblickte Adele mitten auf einem überwucherten Feld alte Steinmonolithe, die von der Zeit kurz und glatt geschliffen worden waren. Die beiden parallelen Steinplatten faszinierten sie sofort. Entgegen jeder Vernunft wagte sie sich ins Freie, um zu den grauen Monolithen hinüberzugehen. Sie legte die Hand auf den kühlen Stein und spürte ein unerwartetes Gefühl der Wärme und Geborgenheit.
Schatten zogen über das Feld vor ihr – Vampire auf der Jagd, die sich als Silhouetten vor dem Himmel abhoben. Beinahe wäre Adele zum Waldrand zurückgehetzt, doch dazu war es bereits zu spät. Jede Bewegung würde ihre Anwesenheit verraten, obwohl es ohnehin so schien, als könnten sie sie unmöglich übersehen.
Betend und fluchend zugleich schmiegte sie sich eng an die beiden Steine. Sie konnte ihren Herzschlag durch die Hand spüren, die sie an den Monolith presste. Die Vampire hielten im Flug inne, ihre bleichen Gestalten schwebten wie Geister in der Luft unmittelbar über ihr.
Adele atmete langsam, blieb völlig regungslos und verschmolz mit den Steinen und Ranken. Sie blickte den Vampiren direkt in die Augen, als sie nach unten sahen, doch zu ihrem Erstaunen konnten sie sie nicht sehen. Sie wandten sich ab und schwebten nach Westen davon. Ungläubig starrte Adele ihnen hinterher. Dafür gab es keine vernünftige Erklärung. Sie war nicht verborgen gewesen, sie befand sich unter freiem Himmel.
Dann, in der Stille der Lichtung, spürte sie durch den Stein ein Vibrieren, das unter der Oberfläche summte. Es war nicht ihr Herzschlag. Es war etwas anderes – eine Art Kraft. Die hatte sie beschützt. Vielleicht war das die Energie, die Selkirk anzapfte, um sich ungesehen zwischen den Vampiren zu bewegen. Irgendwie verfügte sie über dieselbe Fähigkeit. Vielleicht tat Greyfriar das auch. Er wirkte wie ein Geschöpf der Schatten. Als Adele ihn zuletzt gesehen hatte, hatte er gegen Flay um sein Leben gekämpft. Und sie hatte ihn zurückgelassen. Bei der Erinnerung schmerzte ihr das Herz. Er war quer durch Vampirterritorium zu ihr gekommen, hatte sich ins blutige London gewagt. Für sie.
Natürlich hatte ihr Verlobter das auch getan, aber dem stand eine Armee zur Verfügung, und er war höchstwahrscheinlich vor allem daran interessiert, seinen Anspruch auf einen mächtigen Thron nicht zu verlieren. Über die Beweggründe des Senators würde sie sich niemals sicher sein können. Nicht so wie bei Greyfriar. Er hatte keinerlei Ansprüche auf sie oder ihren Thron und doch immer wieder sein Leben aufs Spiel gesetzt. Er redete mit ihr nicht über Politik, sondern über Bücher und einfache Leute. Er gab nie auf, nicht
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