Schattenprinz
einmal, wenn die Chancen schlecht für sie standen.
Die seltsame Macht der Steine kam polternd zum Stillstand und schwieg unter Adeles Hand. Sofort vermisste sie ihre Gegenwart. Sie hatte zu ihr von Dingen gesprochen, die sie schon fast vergessen hatte: Wärme, Sicherheit und Erlösung von ihrer erschöpften Realität. Doch wieder einmal war sie allein und schutzlos. Sie musste weiter.
Greyfriar, bitte sei nicht tot, flehte sie stumm.
Greyfriars Karte führte sie an den Rand der Ortschaft Canterbury.
Sie war so viel kleiner als London. Die Gebäude waren überwuchert von Kletterpflanzen, und Bäume wuchsen aus eingestürzten Dächern. Der Turm einer großen Kirche erhob sich über dem Sumpf aus roten Dächern wie ein Berg über dem Dschungel. Der Ort hatte etwas Ordentliches und Sauberes an sich. Die Luft stank nicht nach Blut und Unrat. Ihre Füße knirschten nicht über die skelettierten Überreste von vor langer Zeit weggeworfenen Mahlzeiten. Adele fühlte sich getröstet, als sie im hellen Sternenschein dahinging. Und der Himmel war frei von dunklen Gestalten.
Während sie sich ihren Weg durch die Außenbezirke der einst bedeutsamen alten Stadt bahnte, nahm Adele wieder dasselbe Gefühl von Sicherheit wahr, das sie bei den Monolithen gespürt hatte. Sie war sich auf seltsame Weise bewusst, dass irgendein unbestimmter Schutz aus der Erde und den von Gras erstickten Pflastersteinen unter ihren wunden Füßen emporzusteigen schien. Vielleicht war es nur die Tatsache, dass hier weniger Blut als anderswo vergossen worden war. Vielleicht war es nur das Wissen, dass sie nicht den Blicken von Vampiren ausgesetzt war, das ihr ein irrationales Gefühl von Freiheit gab.
Adele wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Es waren keine Notizen auf der Karte – nur ein Kreuz unter dem Wort »Canterbury«. Allerdings ergab es Sinn, den wichtigsten Orientierungspunkt, den Kirchturm, als Treffpunkt zu wählen.
Als Adele die herrliche Kathedrale erreichte, begann sie, eine süße Schwere in der Luft zu spüren, alt und unerklärlich. Ein wonniger Schauer durchlief sie. Langsam betrat sie die mächtige Kirche und wurde beinahe von einer Empfindung überwältigt, die sich anfühlte, als spüle eine Welle warmen Wassers über sie hinweg. Sie konnte es nicht verstehen, aber sie wusste, dass es völlig natürlich war, etwas, das zu erfahren ihr bestimmt war. Es brachte eine Ruhe und Zufriedenheit mit sich, die sie so lange erwartet und vermisst hatte, obwohl sie sie nie zuvor erlebt hatte. Gleichzeitig stand sie in Flammen. Jeder Nerv ihres Körpers flirrte. Adele fiel auf die Knie und faltete die Hände vor der Brust, in der Hoffnung auf irgendeine Führung, die ihr half, diesen Donnerschlag zu verstehen, der ihren erschöpften und doch mit Energie erfüllten Körper erschütterte. Sie war eingehüllt in die Herrlichkeit um sie herum, und sie war verloren.
Dann fand sich Adele im Sonnenlicht stehend wieder. Halt suchend klammerte sie sich an den abblätternden, hölzernen Türrahmen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit sie im Innern der Kathedrale verbracht hatte. Die junge Frau torkelte ins Freie und setzte sich in herrlicher Erschöpfung auf die Steinstufen, um zu versuchen, ihre Gedanken zu sammeln. Ihre Kleider waren schweißnass, und sie konnte spüren, dass ihr immer noch Tränen übers schmutzige Gesicht rannen.
Eine Hand griff nach Adele. Sie bemerkte sie aus den Augenwinkeln und wich zurück, doch die behandschuhte Hand erwischte ihren Umhang. Ihre Klinge blitzte auf.
»Nicht wehren, Prinzessin.«
Greyfriar!
Sie keuchte auf und sank dem Schwertkämpfer entgegen, als er sich neben sie kniete. »Sie … du lebst!«
Er umfasste hart ihre Schultern und hielt sie wortlos einen langen Augenblick fest, während sie die Finger in den Stoff seiner dicken Jacke krallte. Stumm freuten sich beide, dass sie sich wiedergefunden hatten. Dann neigte er den maskierten Kopf und betrachtete ihre durchnässte, zitternde Gestalt. »Was ist mit dir passiert?«
Adele war nicht in der Lage, über das »Ereignis« in der Kathedrale zu sprechen, weil es ihr nicht mehr wirklich erschien, nun da sie wieder an seiner Seite war. Zurück in einer Welt von Masken und Schwertern und Kanonen und Blut. Sie machte sich außerdem größere Sorgen wegen der Bedrängnis, die sie an ihm wahrnahm. Er war angespannt und steif, als leide er Schmerzen. Seine Stimme klang gepresst, auch wenn ihr Klang sie aufheiterte.
Sie schüttelte den Kopf. »Es geht mir
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