Schattenreiter
Du siehst müde aus.«
»Das bin ich auch. Ich konnte im Flieger einfach nicht schlafen. Und mein Kreislauf fängt schon an zu spinnen.«
»Dann beeilen wir uns besser. Ich habe dir das Gästezimmer eingerichtet. Das Bett ist bereits bezogen.«
Ich dankte dem lieben Gott für diese umsichtige Tante!
Wir gingen an einigen Wagen vorbei, und ich hoffte, dass wir jeden Moment stehen bleiben würden und ich mein Gepäck im Kofferraum verstauen konnte. Als wir dann aber endlich vor Tante Abigails Auto hielten, traute ich meinen Augen nicht.
Abigail schien mir meine Bedenken anzumerken und klopfte voller Zuversicht auf die gelbe Karosse ihres kleinen VW 1303 LS Cabriolets, dessen Baujahr irgendwann in den Siebzigern liegen musste. Das schwarze Verdeck war zurückgeklappt.
»Das Baby hier war mir viele Jahre treu und hält einiges aus. Wirf deine Sachen in den Kofferraum.«
Ich zog es vor, mein Handgepäck und die Tragetasche vorsichtig abzulegen. Nicht, weil ich etwas Zerbrechliches dabeihatte, sondern weil ich nicht dasselbe Vertrauen in den kleinen Wagen hatte wie sie.
Schließlich sagte ich mir, dass der Käfer es zum Airport geschafft hatte, also würde er es auch zurück nach Calmwood schaffen. Ich erwartete, dass der Motor mehrere Anläufe brauchen würde, ehe er startete, der Wagen stottern, knattern und dampfen würde, aber nichts dergleichen geschah. Er lief geschmeidig und brachte es auf eineordentliche Geschwindigkeit. Ich blickte in den Rückspiegel. Das sandfarbene Flughafengebäude war nur noch ein verschwommener Fleck.
»Dort drüben ist der Dinosaurierpark«, erklärte Tante Abigail und deutete mit dem Finger nach rechts. Ich konnte tatsächlich eine Brontosaurusskulptur auf einer leichten Anhöhe erkennen, die von Bäumchen umringt war. »In die Richtung geht’s zum Mount Rushmore, und das hier ist das beste China-Restaurant weit und breit …«
Ich war so müde, dass ich kaum etwas mitbekam und während der Fahrt einschlief. Als ich die Augen wieder aufschlug, hielten wir gerade vor einem Café mit roter Markise, auf der »Desert Spring – Café & Catering« stand. Das war es also. Das Haus, in dem Dad aufgewachsen war. Ein kleines, zweistöckiges Gebäude, das den Charme des Wilden Westens versprühte.
»Da wären wir«, verkündete Abigail und stieg aus. »Was hab ich dir gesagt, auf meine alte Rostlaube ist Verlass.« Dann holte sie mein Gepäck. An einem runden Tisch im Vorgarten saßen zwei junge Frauen und ein ebenso junger Mann, der einen schmutzigen Overall anhatte. Seine raspelkurzen Haare standen zu allen Seiten ab. Schwarze Flecken zierten seine Wangen. Und er roch nach Öl.
Die drei begrüßten Abigail freundlich. Mich hingegen musterten sie neugierig von oben bis unten. Das war mir unangenehm. Ich versuchte, es nicht zu beachten.
»Sieht genauso aus wie in Dads Fotoalbum«, stellte ich fest und nahm Abigail meine Tragetasche ab, hängte sie mir über die Schulter und folgte ihr ins Haus. Hinter mir begannen die drei zu tuscheln und zu lachen.
»Ja, es hat sich nicht viel verändert.«
Hinter der Theke, die an eine Bar aus einem Western erinnerte, stand eine ältere Dame mit kurzen grauen Haaren. Sie war sehr klein, drahtig und schien für ihre Größe viel zu lange Arme zu haben. Der Eindruck wurde durch ihren gebeugten Rücken noch verstärkt.
»Ich bin wieder da, Gladice«, rief Abigail ihr zu.
»Das sehe ich, meine Liebe.« Gladice kam hinter der Theke hervor und reichte mir die Hand. »Willkommen in unserer Wüstenquelle, dem schönsten Fleck in ganz Calmwood«, begrüßte sie mich mit einer rauen Stimme, die unerwartet männlich klang.
Ich war überrascht, wie kräftig ihr Händedruck war. Über ihrem Hemd und den Jeans trug sie eine hellblaue Schürze. In einer Hand hielt sie einen feuchten Lappen, von dem Spülwasser über ihren nackten Arm lief und auf den Boden tropfte.
»Du hast doch bestimmt Hunger. Such dir was aus«, meinte Gladice und deutete zu der großen Tafel, die über der Theke hing. Es gab Sandwiches, Hotdogs und Kartoffelsalat.Aber mein Magen fühlte sich wie zugeschnürt an. Ich würde garantiert keinen Bissen herunterkriegen.
»Ich bin nicht hungrig, tut mir leid.«
Abigail ging hinter die Theke und holte eine Tasse dampfenden Tees hervor. »Jorani ist sehr müde. Ihr könnt euch morgen gegenseitig beschnuppern.«
»Ach so. Na dann, gute Nacht.« Gladice lächelte schief und offenbarte eine große Zahnlücke, die ihr hexenartiges Kinn noch
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