Schattenreiter
nicht sonderlich behagte. Seine Augen wirkten merkwürdig fern, so als besäßen sie eine unendliche Tiefe.
»Fass es besser nicht an«, sagte er. Er kniete sich hin,nahm seinen Rucksack ab und holte eine Decke heraus, in die er das Tier einwickeln wollte. Ich schloss daraus, dass es noch lebte.
»Soll ich … einen Tierarzt holen?«, fragte ich aufgelöst. »Gibt es überhaupt einen in der Nähe?« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich einer in Calmwood niedergelassen hatte. Wahrscheinlich müssten wir nach Rapid City fahren. In Gedanken plante ich bereits, mir Abigails Käfer auszuleihen.
»Der Hund ist tot.«
Vorsichtig schlug er die Decke um das Tier und hob es hoch. Ganz behutsam, als hielte er einen kostbaren Schatz in den Händen.
»Trotzdem danke für das Angebot«, sagte er nun freundlicher, und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.
»Tot?«
Er nickte und musterte mich wieder. Jetzt erst schien er mich richtig wahrzunehmen.
»Du bist nicht von hier, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. Fasziniert blickte ich in seine Augen, die so dunkel waren, dass ich zwischen Iris und Pupille kaum unterscheiden konnte. »Ich bin seit gestern bei meiner Tante Abigail Stanford zu Besuch.« Ich ging davon aus, dass ihm zumindest ihr Name bekannt war. Schließlich kannte hier jeder jeden.
»Dein Englisch ist nicht schlecht, aber ich höre einen leichten Akzent.«
Ich war überrascht, hatte ich doch geglaubt, man könne mich aufgrund meines guten Sprachtrainings für eine Einheimische halten. Der junge Mann musste eine gute Beobachtungsgabe oder sehr feine Ohren haben.
»Ich bin Berlinerin«, klärte ich ihn auf.
»Willkommen in Calmwood. Tut mir leid, dass wir dir kein schöneres Begrüßungsgeschenk machen konnten.« Nun klang er sarkastisch.
»Rücksichtslose Autofahrer scheint es selbst in einem idyllischen Örtchen wie diesem zu geben«, meinte ich resignierend. Wie oft kam es vor, dass jemand ein Tier anfuhr und es schwer verletzt liegen ließ. Das konnte mich wirklich aufregen.
»Er ist nicht unter die Räder gekommen. Er wurde von Menschenhand getötet«, erwiderte der Fremde mit einer eigenartig monotonen Stimme und wandte sich um.
Getötet? Ich musste schlucken.
Er ging weiter, und ich folgte ihm unwillkürlich. Gab es in Calmwood tatsächlich Menschen, die zu so einer Grausamkeit fähig waren?
Der Fremde blieb an einer kleinen Mulde stehen, die er offenbar zuvor ausgehoben hatte, und legte das tote Tier hinein. Mit bloßen Händen schaufelte er die aufgeschüttete Erde auf die Decke.
»Unser Freund hat kein gnädiges Ende gefunden.« In seiner Stimme schwang grenzenlose Verachtung. Ich hingegen war viel zu geschockt, um etwas zu sagen. Zugleich war ich beeindruckt, dass der junge Mann sich des armen Tieres annahm. Ich hockte mich zu ihm und grub meine Finger in die warme Erde, um ihm zu helfen.
»Warum machst du das?«, wollte ich wissen.
»Warum machst du das?«
»Ich hab zuerst gefragt.«
Er nickte. »Es ist besser, ihn zu vergraben. Sonst lockt er Aasfresser an.«
Nicht weit von uns entfernt saßen zwei Krähen auf einem großen Stein. Sie plusterten ihr dunkles Gefieder und guckten interessiert zu uns herüber.
»Du kennst dich gut aus. Bist du Tierarzt?«
Ich hörte ihn lachen und sah aus dem Augenwinkel, dass er den Kopf schüttelte. Dann war er sicher Farmer. Jedenfalls jemand, der Ahnung hatte.
»Also, und warum hilfst du mir?« Er sah mich neugierig an.
Ich zuckte mit den Schultern. »Der Hund tut mir leid.«
Er sammelte faustgroße Steine und legte sie auf einen Haufen. Einen davon zeigte er mir. Er war rund und staubig. Als ich ihn kurz in die Hand nahm, merkte ich, wie schwer er war.
»Die kommen auf das Grab. Weißt du auch, wieso, Stadtmädchen?«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung und hob hilflos die Schultern. Dann gab ich ihm den Stein zurück.
Er lächelte nachgiebig. »Dadurch verhindern wir, dass sich Raubtiere am Kadaver vergehen.«
Gewissenhaft verteilte er die Steine auf der lockeren Erde.
»Sieh hin, Stadtmädchen, ich lasse keinen Platz zwischen den Steinen. Ein hungriges Tier ist sehr erfinderisch und würde bei zu großen Lücken zu graben beginnen. Doch das Leichengift würde ihm nicht guttun.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Aber warum nennst du mich ständig Stadtmädchen?«
Er hielt inne und grinste mich unverfroren an. »Weil man dir anmerkt, dass du aus einer Großstadt kommst.«
»Ach ja?«
»Du warst dir nicht mal sicher, ob der
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