Schattenreiter
mir eigentlich denken können.
»Gute Nacht, Jorani.« Er kam näher.
Ich spürte seinen Atem auf meinen Lippen und glaubte, nein, hoffte, er würde mich küssen. Mein Verlangen nach einem Kuss war so groß, dass ich mich sogar unbewusst auf die Zehenspitzen stellte, nur um seinen Lippen näher zu sein. Ich sog seinen Atem ein, spürte, wie mein Herz immer heftiger schlug, bis mir schwindelig wurde. Aber das konnte ich geschickt überspielen, indem ich mich leicht gegen den Zaun lehnte. Rins Duft vernebelte mir die Sinne. Erneut roch ich Gras, Weide, sogar Pferd, wahrscheinlich haftete etwas von Larkis Geruch an ihm.
»Bis bald«, sagte er leise. Fast berührten sich unsere Münder. Unmerklich spitzte ich die Lippen. Eine solche Sehnsucht hatte ich nie verspürt. Sie brannte unerträglich in meiner Brust.
Er machte einen Schritt nach hinten, und die Magie war fort. Plötzlich fühlte sich mein Kopf wieder klar an, als hätte ich zuvor unter einem Bann gestanden, der nun gebrochen war.
»Gute Nacht, Rin«, hauchte ich.
Er hob die Hand, dann wandte er sich ab.
Nur einen winzigen Moment schaute ich betreten,auch ein wenig enttäuscht, dass es mit dem Kuss nicht geklappt hatte, zu Boden, und als ich wieder aufsah, war er in der Dunkelheit verschwunden. Schwarze Vögel erhoben sich in die Luft und verschmolzen mit der Dunkelheit. Sie folgten ihm, da war ich mir sicher. Der Gedanke ließ mich frösteln.
4. K APITEL
H ast du einen Moment Zeit, ich möchte dir gerne etwas zeigen«, fragte mich Tante Abigail am nächsten Morgen.
»Ja, natürlich.« Ich saß schlaftrunken an der Theke und schlürfte meinen Tee.
»Es ist eine Überraschung.«
Ich folgte ihr in die geräumige Garage, die auch als Werkraum genutzt wurde. Abigail steuerte zielstrebig auf eine blaue Plane zu.
»Ich dachte mir, dass mehr Mobilität nicht schaden könnte. So bist du nicht mehr auf den Bus angewiesen.«
Sie nahm die Plane herunter, und ein staubiges Moped kam zum Vorschein.
»Ich habe das gute Stück lange vernachlässigt, bin nur mit dem Käfer gefahren. Wenn du magst, lassen wir es von den Pwaytons durchchecken. Dann kannst du es haben.«
Ich überlegte nicht lange und wischte mit einem Tuch, das ich aus einem Regal genommen hatte, den eingestaubten Sitz ab, um mich einmal probeweise draufzusetzen. Während meiner Schulzeit hatte ich ein Moped besessen – bis man es mir gestohlen hatte. Ichkonnte fahren und hatte einen internationalen Führerschein.
»Bob Pwayton hat sicher nichts dagegen, mal einen Blick draufzuwerfen«, stimmte ich meiner Tante zu.
»Also gefällt’s dir?«, versicherte sich Abigail.
»Es ist super!«
Am Nachmittag kamen Bob und Ben Pwayton vorbei und schauten sich in Abigails Garage um.
»Späte Siebziger?«, fragte Bob mit einem skeptischen Schmunzeln, als er das Moped ausgiebig begutachtete.
»Wo denkst du hin, Bob? Mitte der Achtziger«, klärte ihn Abigail auf.
»Tut mir leid, Mopeds sind nicht mein Fachgebiet.«
Pway tat sehr fachmännisch, beäugte den Motor und schraubte am Auspuff herum.
»Nicht schlecht«, meinte er anerkennend. »Hat auf jeden Fall einen gewissen … Coolnessfaktor.«
»Findest du?«, fragte ich entgeistert. Das konnte nur ein Witz sein. Aber Pway nickte völlig ernst. »Klar, wenn du drauf fährst, ist das cool.«
»Und, kriegt ihr das hin?«, wollte Abigail wissen. Bob nickte zuversichtlich. »Wir kümmern uns heute Abend drum. Reicht dir das, Jorani?«
»Ja, sicher. Wäre toll.«
»Ist ja auch nicht viel zu machen.«
»Vielleicht schaffe ich es früher«, erklärte Pway und kam nah an mich heran. Er roch nach Öl und Benzin. Sein hellblauer Overall war vollkommen schmutzig. Sogar in seinem Gesicht entdeckte ich einige rußige Flecke, die ihn wie einen Schornsteinfeger aussehen ließen.
»Ja, okay …«, sagte ich und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie wenig mich diese Aussicht begeisterte. Denn wenn ich Pway so ansah, kam mir nur »brünstiger Hirsch« in den Sinn. Aber ich wollte wirklich nicht undankbar sein. Es war sehr freundlich von den beiden, dass sie mir helfen wollten.
Zwei Stunden später reinigten Pway und ich das Moped, befreiten es von Spinnweben und einer dicken Staubschicht. Dann füllte er den Tank mit Hilfe eines mitgebrachten Kanisters und eines Trichters auf und testete, ob der Motor ansprang. Ein unangenehmes Schnarren erklang.
Bob kam zwanzig Minuten später zu uns in die Garage. Er schraubte so lange an dem Moped herum, bis ihm
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