Schattenreiter
dass es ihre Naturfarbe war, um die ich sie ehrlich beneidete.
Pway hätte ich älter geschätzt. Das lag an seiner Stimme. Sie klang sehr ruhig, ausgeglichen und deutlich tiefer als die von Jack. Er arbeitete in der Autowerkstatt seines Vaters und hatte sich erst kürzlich von seiner Freundin aus Rapid City getrennt. In der Gegend um Calmwood und in den Black Hills kannte er sich wie kein Zweiter aus.
»Wenn du magst, zeige ich dir ein paar schöne Flecken«, versprach er. »Oder wir gehen alle zusammen campen. Der Wald ist in dieser Jahreszeit unvergleichlich. Bevor du abreist, solltest du unbedingt in die Black Hills fahren. Das ist ein Muss.«
»Pway hat recht, Jorani. Die Natur hier ist einzigartig«, ermunterte mich Ira.
»Und wann wollt ihr das machen?«
Pway zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. An einem Wochenende vielleicht?«
Damit waren alle einverstanden. Ich auch. Denn ichwollte wirklich gern mehr von South Dakota sehen, und wegen Gladice’ Unfall würde meine Tante nicht viel Zeit für eine Sightseeing-Tour haben.
Gegen 23 Uhr machte ich mich auf den Heimweg. Linda und Jack begleiteten mich ein Stückchen, aber dann mussten sie in eine andere Richtung. Pway war schon etwas früher aufgebrochen, so dass ich nun allein war.
Friedlich, ja geradezu totenstill lag die von Bäumen gesäumte Straße vor mir. Calmwood hatte bei Nacht einen ganz besonderen, eigenen Charme. Es war in seiner ländlichen Atmosphäre beschaulich und anheimelnd. Ich ging an liebevoll gepflegten Vorgärten vorbei, in denen Briefkästen mit hoch- und runterklappbaren Fähnchen standen, wie man es aus Filmen kannte. In einigen Häusern brannte noch Licht, in anderen war es bereits dunkel, weil die Bewohner schon schliefen. In der Ferne hörte ich das einsame Bellen eines Hundes.
Es stimmte, was man sagte. In ländlichen Gegenden war man den Sternen näher als in der Großstadt. Ein Meer aus funkelnden und glitzernden Diamanten erstreckte sich über mir. Ich blieb stehen, um den Anblick zu genießen, als ich das Rascheln von Laub hinter mir hörte. Erschrocken drehte ich mich um, aber niemand war zu sehen. Die Straße war menschenleer. Wahrscheinlich war es nur ein Tier gewesen, das sich in die Stadt verirrt hatte. Dennoch beschloss ich, mich zu beeilen. Die Vorfälle der letzten Tage, die eingeworfene Fensterscheibe und der getötete Hund spukten mir noch immer im Kopf herum. Offenbar steckte diese Jugendbande hinter allem, und ich hatte keine Lust, ihnen allein auf offener Straße zu begegnen.
Ich bog in eine Seitenstraße, in der Hoffnung, eine Abkürzung gefunden zu haben, als plötzlich jemand hinter mir auftauchte und mich am Arm festhielt.
»Warte bitte.«
Ich blieb wie angewurzelt stehen, hielt vor Schreck den Atem an. Das Herz schlug mir bis zum Halse. Aber dann riss ich mich los, wollte wegrennen.
»Keine Angst, ich bin es«, flüsterte der Fremde. Diese Worte ließen mich innehalten. Langsam drehte ich mich um und blickte in ein schmales Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen und einem kantigen Kiefer. »Hab ich dich erschreckt?«
»Rin!« Ich war unendlich erleichtert, ihn zu sehen, und wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen.
»Entschuldige, ich wollte dir keine Angst machen.«
»Du kannst schleichen wie eine Katze, weißt du das? Aber was machst du denn hier?« Der Schrei einer Krähe hallte durch die Nacht und ließ mich zusammenzucken. In der Krone einer riesigen Eiche hockten sieben, acht, vielleicht sogar zehn Krähen. Ich erkannte im Dunklen nur ihre Umrisse. Ihre Köpfe waren nach vorn gereckt, so, als starrten sie auf uns herab. Sie erinnerten an Raubvögel, die auf Beute hofften. Oder auf Aas. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.
»Ich habe dich gesucht.«
Rin folgte meinem Blick zu den schwarzen Vögeln, die auf den Ästen saßen.
»Vor den G’takalag brauchst du dich nicht zu fürchten. Man sagt, sie seien im engen Kontakt mit den Zorwaya, und so wissen sie, was erst geschehen wird. Sehr kluge Tiere.«
»Ehrlich gesagt klingt das alles andere als beruhigend.« Diese Vögel waren mir unheimlich.
Rin lachte leise. »Hab keine Angst, Stadtmädchen, sie werden dir nichts tun.«
Er sagte das so überzeugend, dass ich ihm glauben musste. Immerhin kannte sich niemand so gut mit Tieren aus wie Rin.
»Was ist gestern Nacht geschehen?«, fragte ich, denn ich wollte endlich Klarheit haben.
»Du musst mir glauben, dass ich nichts damit zu tun habe. Ich habe eure Scheibe
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