Schattenriss
Augenblick, wessen Blicke auf ihrem vor Schmerz und Anstrengung geröteten Gesicht ruhen, zwischen ihren weit gespreizten Beinen, auf ihrem schweißnassen Körper, der sich unter dem stetig anschwellenden Gebrüll körperlicher Qualen windet, obwohl sie immer so stolz auf ihre Stärke gewesen ist, auf ihre Disziplin, ihre Selbstbeherrschung. Sie fragt sich, wer sie beobachtet, um anschließend mit penibler Gründlichkeit zu protokollieren, wie sie sich schlägt in einer Situation wie dieser, was sie sagt, ob sie stöhnt, weint, schreit, wann sie die Fassung verliert.
Sie haben ihre Augen überall. Sieh dich vor.
Zwischen ihren Knien hindurch schielt sie nach der Wand gegenüber, die bis auf Schulterhöhe eines Erwachsenen mit glänzenden grünen Kacheln bedeckt ist. Eine davon scheint einen Riss zu haben. Er beginnt in der rechten oberen Ecke und läuft dann in einem unregelmäßigen Zickzack durch das Grün, das an dieser Stelle aus dem Rhythmus gerät. Eigentlich seltsam, denkt sie, dass mir das auffällt. Noch dazu auf die Entfernung.
Sieh dich vor. Und glaub nur nicht, dass ihnen irgendetwas entgeht.
Sie sehen alles. Hören alles.
Immer und überall.
Unsinn, ruft sie sich selbst zur Ordnung, du benimmst dich ja fast schon paranoid. Mag sein, dass sie vieles im Blick haben. Aber ein Kind, ein Baby, so etwas ist privat, selbst in einem Staat wie diesem.
Oder?
Sie kneift die Augen zusammen und wartet sehnsüchtig auf den nächsten Moment der Schmerzfreiheit. Als er da ist, hebt sie den Kopf und registriert mit Unbehagen, dass selbst dieser Hauch einer Bewegung nicht unbemerkt bleibt. Dass die bebrillte Schwester, die abwartend auf einem Stuhl vor der gekachelten Wand sitzt, den Blick von ihrem Roman hebt, um gleich darauf wieder wegzusehen. So schnell, dass man den Eindruck gewinnen könnte, man habe sich getäuscht.
Aber sie hat sich nicht getäuscht.
Ihre Bewegung ist erfasst, analysiert und als unwichtig verworfen worden. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Sie schluckt und lässt sich wieder in das vor steriler Sauberkeit knirschende Kissen zurücksinken, das hart und unpersönlich in ihrem Nacken liegt wie der Arm eines Fremden, dessen Berührung sie nicht zugestimmt hat. Und während sich ihre Augen, die blutig sein müssen vor Schmerzen, Zentimeter für Zentimeter über den grünen Kachelhorizont zwischen ihren Knien tasten, beschleicht sie das Gefühl, dass ihre Kraft allmählich zu Ende geht. Dass sie drauf und dran ist, die Beherrschung zu verlieren. Dass sie von innen heraus explodieren wird, wenn es nicht bald vorbei ist. Beendet. Ausgestanden.
Was soll nun werden?, denkt sie, ausgerechnet sie, die zu jedem Zeitpunkt ihres bisherigen Lebens ganz genau zu wissen glaubte, was als Nächstes zu tun ist. Worauf sie hinaus will. Was richtig ist. Und was falsch.
Aber jetzt ist alles anders. Dieses Kind da in ihr, dieser Sohn, der sich seinem Eintritt in diese Unwelt so vehement widersetzt, hat alles verändert. Und von heute auf morgen hat sie keine Ahnung mehr, wie das Gebot der Stunde lautet. Ob sie weitermachen soll, ob sie es riskieren kann, das, was sie so lange und so mühsam aufgebaut hat, zu Ende zu bringen. Oder ob es nicht vielleicht doch an der Zeit ist, sich in sich selbst zurückzuziehen.
Sie ist nicht länger allein.
Sie hat nicht mehr nur für sich selbst zu entscheiden.
Verantwortung, denkt sie, ist ein Gefühl, das Tonnen wiegt.
Die Wucht der nächsten Wehe trifft sie so heftig, dass sie nicht mehr länger an sich halten kann. Sie liegt vollkommen unbewegt und lauscht ihrem eigenen Schrei hinterher, der eine endlos lange Zeit zwischen den hohen Wänden umherflirrt wie ein Insekt, das verirrt von Wand zu Wand prallt. Als ob ich mich zu allem Überfluss auch noch selbst verraten müsste!, denkt sie, während sie aus den Augenwinkeln registriert, wie die bebrillte Schwester ihr Buch beiseitelegt. Zugleich erscheint ein Gesicht über dem Operationstuch, das schweißnass an ihren zitternden Schenkeln klebt. Eine Ärztin im weißen Kittel, die sie nie zuvor gesehen hat. Blond, Mitte vierzig vielleicht. Ein kurzer, prüfender Blick in ihr Gesicht, dann wandern die kühlen grauen Augen weiter, zwischen ihre Beine, die sie am liebsten ganz fest zusammenkneifen würde, um zu beschützen, was sich längst nicht mehr aufhalten lässt.
Die grauen Augen wenden sich der Schwester zu, die als massiver Schatten hinter einer Barriere aus Licht steht. Ein kurzes, einvernehmliches Nicken. Es ist
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