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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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der Bank. Und auch später noch einmal. Im Van. Zugleich fiel ihr plötzlich auf, dass Alpha den Zeitschriftenhändler im Gegensatz zu Iris Kuhn von Beginn an gesiezt hatte, und sie fand diesen Umstand irgendwie bemerkenswert. Lag das am Alter? An der ruhigen Autorität, die Quentin Jahn ausstrahlte, selbst jetzt, in einer Situation wie dieser?
    Falls dieser Mann Angst hat, versteht er es jedenfalls vortrefflich, sie zu verbergen, resümierte sie.
    Quentin Jahn schien zu spüren, dass sie ihn ansah. Jedenfalls drehte er den Kopf in ihre Richtung, und als ihre Blicke sich trafen, glaubte Winnie Heller gar, etwas wie eine Frage in seinen Augen auszumachen. Na , schienen diese Augen zu sagen, was denken Sie, wie unsere Chancen stehen?

II
 
 
Hast du einen Freund hienieden, Trau ihm nicht zu dieser Stunde, Freundlich wohl mit Aug und Munde, Sinnt er Krieg im tückschen Frieden.
    Joseph Freiherr
von Eichendorff, »Zwielicht«
     
     
     
    Magdeburg, Januar 1973
     
    Ihr Atem geht stoßweise, und sie hat das Gefühl, den Geruch, der dumpf und schwer an ihr klebt wie eine nasse Wolldecke, keine Sekunde länger ertragen zu können. Narkotika. Desinfektionsmittel. Blut. Dazu etwas, das sie noch nicht einmal annähernd beschreiben könnte. Vielleicht, denkt sie, ist es der Geruch zurückliegender Qualen, ähnlich intensiv wie die, die sie gerade durchzustehen hat. Der Geruch einer alten Angst, die unbemerkt in die gepolsterte Liege unter ihr gesickert ist und nun dort festsitzt. Mitten in diesem stickigen, grell ausgeleuchteten Raum, der nicht den leisesten Versuch unternimmt, den Frauen, die hier ihre Babys zur Welt bringen, ein Gefühl von Intimsphäre oder gar Geborgenheit zu vermitteln.
    Als ob sie gleich von Beginn an klarstellen wollen, dass es keinen Winkel gibt, in dem man vor ihnen sicher ist, denkt sie zwischen zwei Wehen. Dann versucht sie, sich wieder auf ihren Atem zu konzentrieren. Und auf den Gestank, der sie umgibt. Dabei müsste irgendwo dort draußen doch eigentlich noch immer Winter sein. Klirrend klare Januarluft, so rein und kompakt, dass sie selbst den Ruß, der wie schlechter Atem aus den Schornsteinen der Magdeburger Industrieanlagen quillt, als schmutzig graue Matschmasse an den Boden zu nageln vermag, über die die Kinder der Elbestadt auf ihrem Weg zur Schule juchzend hinwegschlittern. So unbedarft, als sei dem Dreck, den diese Stadt unablässig hervorbringt, tatsächlich mit einem Lachen beizukommen.
    Sie starrt über das sterile grüne Tuch hinweg, das sie ihr halbherzig über Oberschenkel und Knie gebreitet haben, und wartet auf die nächste Wehe. Geschlagene fünf Stunden geht das nun schon so. Fünf Stunden, in denen der Schmerz nahezu minütlich über sie herfällt wie ein nimmersattes Raubtier und ihr ein paar endlos quälende Sekunden lang die Luft abschneidet, die Gedanken, ja, sogar die Angst, die sie in den letzten Monaten immer häufiger verspürt, obwohl sie sich selbst als annähernd furchtlos in Erinnerung hat.
    Sie beißt sich von innen auf die Wange und zählt rückwärts von hundert bis sechsundsiebzig. Dann beginnt es aufs Neue.
    Die kurzen Pausen zwischen den Wehen reichen kaum zum Durchatmen, bei weitem nicht genug, um wieder zu Kräften zu kommen. Es ist, als ob er gar nicht erst heraus will, denkt sie. Als ob er wüsste, was ihn erwartet. Das hier, das ist keine Welt, in die man so ohne weiteres hineinplumpst, um anschließend erst einmal zehn, fünfzehn oder gar achtzehn Jahre lang unbeschwert vor sich hin zu leben. Sie schließt die Augen und denkt an einen Schlager von Hildegard Knef. Von nun an ging’s bergab . Und auf einmal bereut sie bitterlich, derart egoistisch gewesen zu sein. Bereut, dass sie ihn so unbedingt behalten wollte, diesen ihren Sohn, denn dass es ein Sohn ist, das weiß sie ganz sicher, davon ist sie überzeugt, seit sie seine Präsenz in ihrem Körper zum ersten Mal bemerkt hat. Damals hat sie etwas empfunden, das genau so schwer zu beschreiben ist wie der Geruch, der sie umgibt. Eine Art schmerzvolle Ratlosigkeit, die zugleich in einer Art und Weise mit Sinn erfüllt war wie nichts zuvor in ihrem Leben. Und doch bereut sie jetzt, dass sie entschieden hat, das Baby zu behalten. Ihren unschuldigen kleinen Sohn mitten in eine Welt zu gebären, die derart absurd ist. Derart monströs. Derart unzumutbar.
    Sie blinzelt in die Lampe über sich, die grell und weiß auf sie herabfunkelt wie eine böse Sonne, und überlegt, wer ihr zusieht, jetzt, in diesem

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