Schattenriss
so weit. Kein Aufschub mehr.
Das Nächste, was durch den dichten Schleier der Schmerzen bis in ihr Bewusstsein vordringt, ist das Weinen ihres Sohnes, den der stumme Schwesternschatten mit routinierten Handgriffen in ein weißes Leintuch hüllt. Dann verdichtet sich der Gestank, der sie umgibt, zu einer zähen, undurchdringlichen Masse. Bleierne Schwärze sinkt auf sie herab wie der Ruß der Magdeburger Industrieanlagen auf den frisch gefallenen Schnee, der die Straßen jenseits der grünen Kacheln bedeckt. Das Weinen verstummt, und die Welt um sie herum verliert sich in nachtschwarze Düsternis.
ZWEITER TEIL
Wiesbaden, 14. März 2008
1
Richard Goldstein verzichtete grundsätzlich aufs Anklopfen. Stattdessen riss er die Tür der Einsatzzentrale auf, als erwarte er, auf der anderen Seite einen gefräßigen Tiger vorzufinden, den es um jeden Preis zu überrumpeln galt.
Der erfahrene Unterhändler war etwas mehr als mittelgroß und hatte eine abgewetzte schwarze Reisetasche über der rechten Schulter. Obwohl sich unter seinem dunkelblauen Polohemd unverkennbar ein kleiner Bauchansatz abzeichnete und die Tränensäcke unter den klaren blauen Augen ein wenig zu deutlich hervortraten, wirkte seine Haltung straff, beinahe militärisch. Und wie um diesen Eindruck noch zu unterstreichen, trug Richard Goldstein sein graumeliertes Blondhaar raspelkurz geschnitten. Er hatte, wie Verhoeven auf der Rückfahrt ins Präsidium von seinem Vorgesetzten erfahren hatte, Soziologie mit Schwerpunkt Katastrophensoziologie studiert und über die gesellschaftlichen Folgen des Olympia-Attentats von 1972 promoviert, bei dem ein palästinensisches Terrorkommando elf israelische Sportler in seine Gewalt gebracht hatte. Dass damals keine der Geiseln den misslungenen Zugriff der Polizei überlebt hatte, wertete Verhoeven insgeheim nicht unbedingt als günstiges Omen, auch wenn er sich sagte, dass Richard Goldstein sich wahrscheinlich gerade deshalb so ausführlich mit dem Thema auseinandergesetzt hatte, weil er sich für die Gründe des Scheiterns interessierte. Die Wiederholung eines Fehlers lässt sich nur dann vermeiden, wenn man weiß, warum man diesen Fehler überhaupt gemacht hat, erinnerte ihn die Stimme seines verstorbenen Mentors Karl Grovius. Und doch hatte Verhoeven ein entschieden ungutes Gefühl, als er genau wie alle anderen den Kopf wandte und dem erfahrenen Unterhändler entgegenblickte.
Die Hoffnungen, die sich an Goldsteins Erscheinen knüpften, waren buchstäblich mit Händen zu greifen, doch der studierte Soziologe sparte sich jede Floskel der Begrüßung. Stattdessen ließ er sich auf den erstbesten freien Stuhl fallen und knallte das provisorisch zusammengeheftete Dossier auf den Konferenztisch, das ihm bei seiner Ankunft am Frankfurter Flughafen ausgehändigt worden war.
»Warum in dieser Stadt? Warum diese Filiale? Warum heute? Warum so kurz vor Toresschluss?« Goldstein schleuderte die Fragen mitten in den Raum, als könne er sich auf diese Weise von ihnen distanzieren.
Doch erwartungsgemäß wagte keiner der Anwesenden eine Antwort.
»Also schön«, brummte der Unterhändler, indem er Kai-Uwe Luttmann mit einem flüchtigen Augenzwinkern begrüßte. »Was genau ist in dieser Filiale vorgefallen?«
»Das geht aus den Aufnahmen der Überwachungskameras leider nicht eindeutig hervor«, erwiderte Luttmann, der hastig seine Coladose beiseitegestellt hatte. »Ich habe mir inzwischen das gesamte Material angesehen, aber sie agieren überwiegend aus den toten Winkeln heraus.«
»Dann wissen wir zumindest, dass sie alles von langer Hand abgecheckt haben«, schloss Goldstein und streckte seine Beine unter den Tisch. Obwohl er Jeans trug, wirkte er kein bisschen leger. Seine gesunde Gesichtsfarbe, der selbst die durchdringende Neonbeleuchtung der Einsatzzentrale nichts anzuhaben vermochte, sprach für häufige Aufenthalte an der frischen Luft, und Verhoeven konnte sich gut vorstellen, dass der ehemalige Gerichtsgutachter in seiner Freizeit die Jugendmannschaft irgendeines Vorstadtfußballvereins trainierte. »Wer koordiniert die Background-Ermittlungen?«
Der untersetzte Mittvierziger, der am Kopfende des Tisches saß, hob die Hand.
Goldstein lächelte. »Ich spreche die Kollegen, mit denen ich zusammenarbeite, gern mit Namen an.«
»Jüssen«, entgegnete der Beamte so hastig, als habe er sich eines gravierenden Versäumnisses schuldig gemacht. »Hubert Jüssen.«
Auf den ersten Blick wirkte Jüssen
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