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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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ihrem Gesicht abzulesen, was der Entführer ihr da gereicht haben mochte, doch Iris Kuhn verzog keine Miene.
    »Danke«, sagte sie, indem sie dem Mann im hellen Mantel den Becher zurückgab. Dann senkte sie hastig den Blick. Vielleicht, weil sie Angst hatte, dass er sich sonst provoziert fühlen könnte.
    Der Entführer nickte nur und wandte sich ab.
    Anschließend ging er mit derselben gelassenen Ruhe, mit der er gekommen war, auf die eiserne Treppe zu.
    Verdammt, dachte Winnie Heller, irgendwas stimmt nicht mit diesem Kerl! Etwas an seiner Haltung, an seinem Gebaren machte sie nervös, ohne dass sie hätte sagen können, was es war. Aus den Augenwinkeln registrierte sie, wie der Mann eine Hand unter das Revers seines Mantels schob. Was dann geschah, vollzog sich ohne jeden Übergang.
    Der Entführer zögerte nicht. Nicht eine einzige Sekunde. Er wirbelte einfach auf den Absätzen seiner Lederschuhe herum, eine flüssige, beinahe elegante Bewegung.
    Winnie Heller sah etwas Metallisches aufblitzen, und eine Kugel aus dem Lauf seiner Automatik traf die brünette Bankangestellte genau zwischen die Augen.
    Die Wucht des Schusses warf Iris Kuhns athletischen Körper zurück, als sei er ein gewichtsloses Nichts. Winnie Heller hörte das gedämpfte Pfeifen des Schalldämpfers. Dann schlug der Hinterkopf der Bankangestellten auch schon mit einem markerschütternd dumpfen Ton auf dem verdreckten Boden auf. Staub wirbelte hoch, winzige Teilchen, die im Licht der Taschenlampe tanzten, während der Mann im hellen Mantel den Strahl mit an Obszönität grenzender Penetranz auf den toten Körper gerichtet hielt.
    Er sezierte ihn förmlich. Vor ihrer aller Augen.
    Winnie Heller hörte, wie jemand »Oh mein Gott« rief. Zugleich drängte sich ein ebenso banaler wie makabrer Satz in ihr Bewusstsein. Irgendein blödsinniger Abzählreim. Da waren’s nur noch sechs ...
    Dann erschien eine neue Silhouette über dem Rand der Grube.
    »Scheiße, Bernd, was hast du gemacht?«, schrie der jüngste der Geiselnehmer, und seine Stimme überschlug sich fast vor lauter Aufregung. »Was, um Himmels willen, hast du getan?«
    Dein Komplize hat gerade eine Frau erschossen, gab Winnie Heller dem Jungen stumm zur Antwort. Nein, falsch, er hat Iris Kuhn nicht erschossen. Er hat sie liquidiert. Und du, mein Kleiner, hast uns gerade den Vornamen ihres Mörders verraten!
    Sie merkte, wie sie leise zu zittern begann, und ihr Kopf fühlte sich von einem Augenblick auf den anderen wattig und leer an. Trotzdem schielte sie zu dem Mann im hellen Mantel hinüber. Eigentlich müsste er furchtbar wütend sein, dachte sie, dar über, dass sein Kumpel sich nicht besser im Griff hat. Aber zu ihrer Überraschung sahen die Augen hinter der Sturmhaube nicht im Mindesten wütend aus.
    Eher ...
    Ja, dachte Winnie Heller schaudernd, eher amüsiert.
    »Also gut, meine Herrschaften«, sagte Brutalo-Bernd, wobei er offenbar ganz bewusst den Tonfall seines Komplizen imitierte. »Möchte vielleicht sonst noch jemand von Ihnen einen Wunsch äußern?«
    Dieser elende Dreckskerl ist ungefähr so gestresst wie meine Mutter sonntagabends in der Badewanne, befand Winnie Heller fassungslos. Es lässt ihn vollkommen kalt, zu töten. Und er hat auch nicht die geringste Angst davor, dass man herausfindet, wer er ist. Mehr noch, dachte sie, ich habe das Gefühl, als ob er der Leiche am liebsten seine Visitenkarte um den Hals hängen würde.
    Unter ihren Mitgefangenen herrschte noch immer blankes Entsetzen, und natürlich dachte niemand daran, die mehr als zynische Frage des Geiselnehmers zu beantworten. Stattdessen schienen alle bemüht, eine Stelle zu finden, die sie gefahrlos ansehen konnten. Bloß nicht auffallen, schien die allgemeine Devise zu lauten. Nicht auffallen. Nicht reizen. Am besten gar nicht da sein.
    »Gut«, sagte Bernd Wer-auch-immer, nachdem er keine Antwort erhielt. »Das dachte ich mir.«
    Dann drehte er sich um und ging davon.
    Während die Blicke ihrer Mitgefangenen sich zögerlich an seinen Rücken hefteten, der sich langsam und ungerührt die eiserne Treppe hinaufbewegte, blieben Winnie Hellers Augen an Quentin Jahn hängen. Der Zeitschriftenhändler stand ein wenig abseits, und was sie von ihm sehen konnte, bestätigte ihren ersten, flüchtigen Eindruck: ein verhältnismäßig kleiner, asketisch wirkender Mann um die sechzig mit raspelkurz geschnittenem Haar und wachen, taxierenden Augen. Sie dachte daran, wie er das Heft in die Hand genommen hatte, vorhin in

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