Schattenschmerz
klingelte, hob er sofort ab. «Frank Steenhoff?»
Es klang zu formell, das ahnte er. Die ganze Aktion war völlig überzogen. Verzweifelt suchte er nach dem passenden Einstieg in das Gespräch.
«
Guten Morgen
, Frank», sagte Chris Lorenz spitz und unterdrückte ein Gähnen. «Ich muss sagen, ich hatte nicht damit gerechnet, dass mein Anruf bei dir zu einem Polizeieinsatz führt.»
«Entschuldige, wenn ich dich geweckt habe. Ich hatte gehofft, du bist noch wach.»
«Es ist kurz vor eins», erwiderte Chris trocken.
«Es ist nur, dass ich … Also, deine Nachricht auf dem AB …», stotterte Steenhoff und suchte vergeblich nach einem besseren Einstieg ins Gespräch. Er beschloss, nicht lange drum herumzureden: «Was meintest du mit deiner Bemerkung
philosophischer Täter mit Hang zu Fernost
?»
Am anderen Ende machte sich eine unangenehme Stille breit.
«Chris, bist du noch dran?»
«Ja, aber ich überlege gerade, ob ich nicht besser auflegen sollte.»
Sie hatte recht. Er benahm sich wie ein Idiot.
«Warum wieder auflegen?» Steenhoff versuchte, Zeit zu gewinnen.
«Nun, wenn ich mich recht erinnere, habe ich in den vergangenen Wochen zweimal bei dir aufs Handy gesprochen. Aber offenbar hattest du keine Zeit zurückzurufen. Auch nicht, als ich dir neulich gemailt habe, dass ich übers Wochenende in Bremen eine Freundin besuchen würde. Wir hätten uns auf einen Kaffee treffen können. Aber außer einer knappen Antwort, dass du an dem Wochenende Dienst hast, habe ich nichts mehr von dir gehört. Und nun klingelt es mitten in der Nacht an der Tür Sturm, und ich stehe im Nachthemd vor zwei deiner Kollegen, die mich auffordern, dich sofort anzurufen.» Sie machte eine Pause.
Einen Moment lang blieb Steenhoff an der Vorstellung hängen, wie Chris Lorenz, noch leicht verschlafen, im Nachthemd die Tür öffnete. Ein angenehmes Bild.
«Würdest du mir trotzdem deine Telefonnummer noch mal geben?», hakte er nach. «Ich habe sie überall verzweifelt gesucht.»
«Verzweifelt?» Ihre Stimme klang skeptisch.
«Ja, ich würde gerne wissen, was du mit Fernost meintest … und …» Er stockte, dann fügte er hinzu: «… und ob du zufällig demnächst mal in Bremen bist, damit ich dich als kleine Entschuldigung zum Rhabarberkuchen einladen kann.»
«Rhabarberkuchen?»
«Selbstgebacken», fügte Steenhoff hinzu.
«Von dir?» Ihre Stimme klang erstaunt.
«Nein, von meiner nächsten Nachbarin hier im Moor. Sie verwöhnt mich jedes Wochenende mit ihren Backkünsten. Aber wenn ich das alles essen würde, müsste ich zum Dienst rollen. Das meiste habe ich eingefroren.» Er spürte, dass Chris Lorenz zögerte, und fügte hinzu: «Die alte Dame erinnert mich sehr an meine Großmutter. Sie konnte auch so gut backen.»
Chris Lorenz lachte leise auf. Sie schien zu überlegen. Schließlich schlug sie Steenhoff vor, dass sie sich in der nächsten Woche treffen könnten. Eine Bremer Freundin hatte sie zu einer Ausstellung in der Kunsthalle eingeladen. «Vielleicht kann ich es einrichten, dass wir uns vorher auf einen Kaffee und einen deiner köstlichen eingefrorenen Kuchen treffen.»
Obwohl Steenhoff ahnte, dass er auch in der kommenden Woche keine Zeit für private Treffen haben würde, willigte er ein. Ein, zwei Stunden müssten drin sein. Irgendwie.
«Was meintest du denn nun eigentlich mit ‹Hang zu Fernost› bei deiner Nachricht auf meinem AB ?», versuchte Steenhoff, das Thema wieder auf den eigentlichen Grund für seinen Anruf zu lenken.
«Ach, wegen des Philosophen hast du hier die ganze Aktion veranstaltet», erwiderte Chris schnippisch.
Steenhoff hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, hütete sich aber davor, sie zu unterbrechen.
«Na, euer Täter bezieht sich doch in seinem Erpresserschreiben auf Konfuzius.»
«Was weißt du darüber?», beeilte sich Steenhoff zu fragen.
«Nun, einmal schreibt er, dass der Weg nicht immer das Ziel ist. Eines der berühmtesten Zitate des chinesischen Philosophen. Natürlich etwas abgewandelt. Und zum anderen steckt, wenn man genau hinschaut, noch ein zweites Zitat von Konfuzius drin.» Sie machte eine Pause. «
Wer einen Fehler macht und ihn nicht korrigiert, der begeht einen zweiten
. Auch das hat dein Täter in seinem Schreiben etwas abgewandelt, aber es ist noch deutlich zu erkennen. Er scheint recht belesen.»
Steenhoff gab ihr innerlich recht. Alles an diesem Fall war ungewöhnlich. Üblicherweise hatten sie es bei der Mordkommission mit Affekttaten im
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