Schattenschmerz
anderen Schreiben.» Er sah Steenhoff prüfend an. Doch da der Ermittler keine Reaktion erkennen ließ, fügte er hinzu: «Das heißt, unser Mann hat beim Schreiben drauf geachtet, dass das Papier zuvor nicht als Unterlage für einen anderen Brief oder eine andere Notiz genutzt wurde. Entweder war das Zufall, oder er ist sehr umsichtig.»
Steenhoff unterdrückte eine ungeduldige Bemerkung. Das, was Wettwick ihm da umständlich erläuterte, wusste jeder Anfänger bei der Kripo.
Der Kriminaltechniker drehte sich wieder zu seinem Schreibtisch um und suchte nach einer Notiz. «Der Text ist in einem fehlerfreien Hochdeutsch geschrieben. Da fehlt kein Komma, und keins ist zu viel. Morgen früh bekommen wir aus Wiesbaden die linguistische Auswertung.»
Steenhoff sah ihn erstaunt an. «Das Bundeskriminalamt ist schon eingeschaltet? Wer hat das veranlasst?»
«Ich habe das vorgeschlagen. Der BKA -Mann ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Ich habe ihn vergangenes Jahr auf einer Fortbildung kennengelernt. Wenn ich mit dem nicht befreundet wäre, müssten wir vermutlich wochenlang auf eine Antwort warten. Da der Mann aber morgen in den Urlaub fliegen will, bot er an, sich sofort dranzusetzen.» Wettwick sah ihn herausfordernd an. «Du warst gerade beim Präsidenten in einer Besprechung. Also hat Navideh entschieden. Sie sagte, ihr hättet sowieso das BKA eingeschaltet.»
Wettwick erwartete ein paar anerkennende Worte oder zumindest Widerspruch, doch stattdessen sagte Steenhoff nur knapp: «Ruf mich an, sobald die linguistische Auswertung da ist.» Dann verließ er ohne Gruß das Büro.
Petersen kochte sich in der kleinen Küche der Abteilung gerade einen Tee, als Steenhoff dazutrat, um die dritte Kanne Kaffee an diesem Tag aufzusetzen. Er kam ohne Umschweife zur Sache.
«Der Attentäter ist ein Profi. Keine Eindruckrillen im Papier, keine DNA , keine Fingerabdrücke. Auch der Drucker kann nicht bestimmt werden. Mehr weiß Wettwick noch nicht.»
Navideh glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. «Stephan Wettwick hat dir einen Zwischenbericht gegeben?» Neugierig sah sie ihn an. «Wie hast du ihn dazu gebracht?»
«Ich wusste, dass seine Frau gerne einkaufen geht.»
Petersens linke Augenbraue ging fragend nach oben. Doch sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was der Kaufzwang von Wettwicks Ehefrau, über den sie in der Abteilung schon des Öfteren gespottet hatten, mit seiner Arbeit im Präsidium zu tun hatte. Sie wollte gerade nachhaken, aber als sie Steenhoffs angespanntes Gesicht sah, verzichtete sie darauf.
Lars Diepenau versuchte so gut wie möglich, sämtliche Anfragen und Interviewwünsche der Journalisten von den Ermittlern fernzuhalten. Inzwischen interessierten sich schon die ersten ausländischen Medien für den Anschlag und das Bekennerschreiben in Bremen. Pausenlos klingelten in der Pressestelle die Telefone.
Steenhoff und seine Kollegen berieten sich unterdessen mit den Delaborierern und versuchten gemeinsam mit den Experten zu analysieren, wie kompliziert der Aufbau des Sprengsatzes im Park gewesen war. Ein genaues Gutachten stand noch aus, aber Steenhoff vertraute darauf, dass seine Kollegen ihnen bereits erste, wichtige Hinweise geben könnten. Jedes Detail, jede Entscheidung, die der Täter bei der Vorbereitung für das Verbrechen sowie bei der Ausführung getroffen hatte, verriet etwas über ihn oder die Gruppe.
Steenhoff hatte auch die Profiler zu Hilfe gebeten. Sie sollten unabhängig von der Sonderkommission untersuchen, was der Anruf und das erstaunlich emotional gehaltene Bekennerschreiben über die oder den Täter aussagten.
Spätabends setzte sich Steenhoff ins Auto und fuhr nach Hause. Er nahm sich vor, noch ein Bier zu trinken und seinen Kaminofen anzumachen. Aber als er eine knappe halbe Stunde später sein dunkles Wohnhaus betrat, befiel ihn eine bleierne Schwere. Einen Augenblick lang erwartete er, dass Ira die Treppe herunterkommen und ihn zärtlich in den Arm nehmen würde. Aber seine Frau war in Portugal. Sie hatten erst tagsüber noch miteinander gesprochen.
Frank sah, dass das Licht an der Telefonstation blinkte. Vermutlich wollte sie ihm noch eine gute Nacht wünschen.
Auf dem Weg zum Kühlschrank drückte er auf Wiedergabe. Es waren mehrere Nachrichten gespeichert.
Als Erster meldete sich sein Halbbruder in einem weinerlichen Ton.
‹Nicht heute Abend›, dachte Steenhoff und spulte vor.
Dann erkannte er Maries Stimme. Seine Tochter wirkte wie immer etwas kurz
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