Schattenschmerz
angebunden am Telefon. Zugleich kündigte sie an, nach Bremen kommen zu wollen. An einem der nächsten Wochenenden wahrscheinlich. Steenhoff musste unwillkürlich schmunzeln. Wie so oft fiel es Marie schwer, sich festzulegen. Immer schien sie sich noch ein Hintertürchen offen halten zu wollen.
Frank nahm sich vor, seine Tochter am nächsten Tag in Berlin anzurufen. Sie sollte lieber mit ihrem Besuch warten, bis Ira wieder von ihrer Geschäftsreise zurückkehrte und er aus der hektischen Phase der Ermittlungen heraus war.
‹Vermutlich will sie sich mal wieder ein wenig verwöhnen lassen›, dachte Steenhoff.
Marie studierte im zweiten Semester Kunst und Design und lebte mit drei anderen Studentinnen in einer früheren Fabriketage in Kreuzberg. Überall hingen große, einfarbige Bilder an den Wänden, die Ecken schmückten Skulpturen, in denen Steenhoff nichts Gegenständliches erkennen konnte. Geschweige denn so etwas wie einen Sinn. Maries Studienentscheidung war ihm fremd. Aber er hütete sich davor, ihre Wahl zu kommentieren. Er sagte auch nichts dazu, dass Klo und Bad in der Fabriketage keine Türen besaßen. Zu oft war er mit Marie im vergangenen Jahr schon wegen Kleinigkeiten aneinandergeraten. «Wie Katz und Hund», hatte Ira irgendwann lakonisch festgestellt. Das einst enge und liebevolle Verhältnis zwischen Vater und Tochter schien sich nach Maries einjährigem Aufenthalt in Neuseeland ins Gegenteil verkehrt zu haben. Statt ihrem Vater wie früher so nah wie möglich sein zu wollen, schien Marie nur auf eine Gelegenheit zu warten, sich verbal wieder auf ihn stürzen zu können.
«Sie nabelt sich ab und sucht nach dem richtigen Abstand», versicherte ihm Ira ein ums andere Mal. Sie war überzeugt davon, dass Marie lediglich eine Art «spätpubertäre Phase» durchlief.
Steenhoff gab seiner Frau zwar recht, aber insgeheim fürchtete er, dass Marie ihn noch immer für das schreckliche Erlebnis vor ein paar Jahren verantwortlich machte. Unwillkürlich musste Frank wieder an den Serientäter Hans Bilg auf einer Farm im Bremer Süden denken. Sofort machten sich die immer selben Bilder in ihm breit. Die Pferdeställe, die dunkel und still in der Nacht dalagen und ein grausames Geheimnis bargen. Marie, gefesselt in den Fängen dieses … Sein Atem wurde schneller. Er spürte, wie sein Herz anfing zu rasen.
Steenhoff schloss die Augen.
‹Höchste Zeit für den Psycho-Zauber›, dachte er unwillig und zwang sich, die beklemmenden Bilder gedanklich in eine alte, braune Truhe zu packen. Ein klobiges Schloss kam darum. Dann legte er die Kiste in einen schweren, eisernen Tresor. Schließlich gab er in seiner Vorstellung einen langen Code in das elektronische Sicherheitssystem ein und legte noch eine schwere Kette um den Tresor, die er mit einem monströsen Schloss versah. Aus der Truhe konnte jetzt nichts mehr entweichen. Seine düsteren Erinnerungen waren wieder sicher verschlossen.
Langsam wurde er ruhiger.
Voller Dankbarkeit dachte er an den befreundeten Polizeiseelsorger, der ihm nach dem Vorfall auf der Farm die «Tresor-Methode» beigebracht hatte. Steenhoff hatte das Gedankenspiel anfangs für albern gehalten, aber schließlich eingewilligt, es zumindest auszuprobieren. Tatsächlich hatte die Methode ihm überraschend gutgetan. Und inzwischen vergingen Wochen, in denen er nicht mehr an die Pferdeställe und das Gesicht von Hans Bilg dachte.
Steenhoff drückte auf den Knopf am Telefon, und der Anrufbeantworter sprang zur nächsten Nachricht. Als er die Stimme von Chris Lorenz erkannte, horchte er auf und stellte lauter.
«Hallo, Frank. Ich habe gerade in den Nachrichten von deinem Fall in Bremen gehört. Hört sich gruselig und philosophisch zugleich an. Ein Psychopath mit Hang zu Fernost. Ich weiß, du hast viel zu tun, aber vielleicht hast du trotzdem Lust zurückzurufen. Ich gehe erst spät schlafen.»
Steenhoff sah auf die Uhr. Viertel nach elf. Konnte er Chris noch anrufen? Was meinte sie mit «Hang zu Fernost»?
Er ging in sein Zimmer, in dem er manchmal Saxophon übte, und schaute auf die Pinnwand, die ihm seine Tochter mal vor Jahren zum Vatertag geschenkt hatte. Irgendwo hier hatte er Chris Lorenz’ Nummer notiert. Ohne Namensnennung und nur einem spontanen Entschluss folgend. Denn natürlich hatte er nie vorgehabt, sie anzurufen.
Mehrere kleine und große Zettel hingen in Lagen an der Wand. Die Nummer von Chris Lorenz war nicht dabei. Auch bei einer zweiten Sichtung wurde er nicht
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