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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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an einer Stelle deutlich schmaler als das Geländer. Wäre er nur mit einer Hand gefesselt, könnte er mit etwas Glück gegen die Verstrebungen treten, sie zerbrechen und sich befreien.
    Er atmete tief ein, dann riss er mit aller Kraft das rechte Handgelenk zum Oberkörper.
    Die Stahlfessel schnitt in sein Fleisch. Sonst tat sich nichts. Vor Schmerzen verzog Hasso von Germershausen das Gesicht. Dann holte er erneut Luft und zerrte ein zweites Mal an der Fessel. Diesmal schrie er leise auf.
    Nach dem dritten Versuch fühlte er, wie sein Handgelenk pochte und warmes Blut über seinen Handballen lief. Die Lehne hielt seinem Zerren stand. Erschöpft ließ sich Hasso von Germershausen in den Sessel zurücksinken.
    ‹Denk nach!›, befahl er sich. Er hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war sein Sturz vom Rad. Er sah an sich herunter. Sein Trikot war beschmutzt, das rechte Knie großflächig aufgeschürft. Und … Jetzt wusste er es wieder: Jemand hatte ihm eine Spritze gegeben. In den Oberarm.
    Plötzlich hatte er wieder das Gesicht der grauhaarigen Frau vor Augen. Warum war sie nicht mit ihm ins Krankenhaus gefahren?
    Wieder kam ihm sein Vater in den Sinn. «Du musst deinen Gegner kennen, um ihn zu besiegen.» Ernst von Germershausen hatte nicht nur sein Unternehmen wie ein General geführt, sondern auch sein Geschäftsleben als steten Kampf betrachtet. Analyse, Strategie, konsequente Entscheidung – die drei Grundprinzipien seines Vaters. Von früh an hatte er die Prinzipien seinem Sohn eingebläut.
    Hasso von Germershausen setzte sich so weit er konnte aufrecht hin und versuchte, seine Umgebung in sich aufzunehmen. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit.
    Vor ihm stand eine Art Couchtisch mit einem aufgeklappten Laptop darauf. In einer Ecke des kleinen Raumes erkannte er einen Tisch und zwei Stühle. Hinter der Treppe, an die er mit einem Arm gefesselt war, lag eine Tür. ‹Vermutlich die Haustür›, dachte er.
    Auf der anderen Seite des Raumes sah er einen in die Jahre gekommenen Küchentisch. Neben einem alten, gusseisernen Ofen hatte jemand mehrere Holzscheite säuberlich übereinandergestapelt. Erst jetzt erkannte Hasso von Germershausen, dass hinter der kleinen Scheibe des Ofens ein schwaches Feuer flackerte.
    Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag: Er war nicht allein.
    Im selben Moment hörte er, wie die Dielen über ihm knarrten.
    ‹Denk nach, denk nach!› Sein Pulsschlag ging höher. ‹Jemand hat mich entführt! Die Täter wollen Geld. Was sonst?›
    Wer immer ihn hierhergeschleppt und gefesselt hatte, wollte etwas von ihm. Hätte man ihn sonst nicht getötet? Die Unbekannten hatten sogar den Ofen angemacht, um den Raum ein bisschen zu wärmen. Aber was verlangten sie? Es ging um einen Deal, ein Geschäft, wenn auch mit anderen Vorzeichen als sonst. Der Gedanke beruhigte ihn.
    Plötzlich waren Schritte auf der Treppe zu hören.
    Hasso von Germershausen wirbelte herum und starrte mit angehaltenem Atem nach oben. Ein paar braune Halbschuhe blieben auf der obersten Stufe stehen.
    «Komm runter», rief er. «Zeig dich, du Feigling!»
    Ohnmächtiger Hass verlieh ihm neue Kräfte. Wie wild zerrte er an seinen Fesseln. Aber das Holz hielt unerbittlich stand.
    Die Gestalt rührte sich nicht. So, als warte sie den Sturm, der in dem gefangenen Mann tobte, einfach ab.
    Undeutlich sah Hasso von Germershausen, wie der Unbekannte eine Hand hob und einen schmalen schwarzen Gegenstand betätigte. Plötzlich wurde das Zimmer hell. Erst jetzt registrierte er, dass jemand eine Leinwand neben dem Ofen aufgehängt hatte.
    Mit offenem Mund starrte Hasso von Germershausen die Leinwand an, auf der jetzt ein Film lief. Männer in Pumphosen und Kaftanen trieben in einiger Entfernung magere, struppige Schafe eine Landstraße hinauf. Dann erschien ein von einem Esel gezogener Karren. Er wurde von zwei laut hupenden, klapprigen Autos überholt. Im Hintergrund waren hohe, schneebedeckte Berge zu sehen.
    «Was soll …?»
    Seine Worte gingen in einem ohrenbetäubenden Knall unter. Das Bild geriet ins Wackeln. Ein Sturm aus Staub und Erde schien die Linse der Kamera einzuhüllen. Er hörte Männer schreien. Jemand stammelte etwas auf Englisch. «My god, oh my god …»
    Mehr konnte er nicht verstehen.
    Die Stimmen brüllten durcheinander. Ein Motorengeräusch war zu hören. Noch immer sah man nichts anderes auf dem Film als gelbstaubige Luft. Als sich die Wolke

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