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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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geteerten Weg schoss.
    Hasso von Germershausen hatte noch nicht mal mehr Zeit zu fluchen. In Bruchteilen von Sekunden musste er sich entscheiden, ob er in den Graben fahren sollte, um einen Zusammenprall mit dem Wagen zu vermeiden, oder scharf bremsen sollte und damit riskieren würde, ins Schleudern zu geraten.
    Mit aller Kraft griff er in die beiden Bremsen für Vorder- und Hinterrad.
    Wie in Zeitlupe und als beobachte er sich von außen, sah er, wie sein Rad plötzlich nach links wegbrach und er über den Lenker flog. Es war nicht sein erster Sturz vom Rennrad. Aber die Tatsache, dass er sich intuitiv zusammenrollte und den Sturz somit abminderte, hatte er seinem Judo-Training in Kindheitstagen zu verdanken. Dennoch kam er hart auf.
    Benommen blieb Hasso von Germershausen auf dem Boden liegen.
    Einen Augenblick lang wagte er nicht, die Augen zu öffnen. Vorsichtig bewegte er erst die Arme, dann seine Beine. Sein ganzer Körper schmerzte. Sämtliche Knochen schienen geprellt, aber die Muskeln gehorchten noch.
    ‹Glück gehabt›, dachte er erleichtert und öffnete die Augen.
    Nur zwei Meter von seinem Kopf entfernt sah er den linken, vorderen Reifen des Wagens. Hätte er nur zwei Sekunden später reagiert, wäre er gegen das Auto geprallt.
    Unter größter Kraftanstrengung versuchte er, sich aufzurichten.
    Da beugte sich plötzlich eine Frau über ihn. Sie hatte halblange, graue Haare und hielt etwas in ihrer rechten Hand. Mit ihrer Linken drückte sie ihn wieder zu Boden.
    «Wie furchtbar, dass ich Sie übersehen habe», sagte sie mitfühlend.
    Hasso von Germershausen wurde schwindelig. Er fürchtete, sich jeden Moment übergeben zu müssen. «Rufen Sie … einen Krankenwagen. Bitte.»
    «Nicht nötig», antwortete die Frau ruhig. «Ich bin Ärztin.»
    Im selben Moment spürte Hasso von Germershausen, wie sich ein spitzer, kleiner Gegenstand in seinen Oberarm bohrte.

[zur Inhaltsübersicht]
    41
    Hasso von Germershausen stöhnte laut auf.
    Sein Schädel dröhnte, als würde ihm jemand in regelmäßigen Abständen mit einem Knüppel auf seinen Hinterkopf schlagen. Mühsam öffnete er die Augen.
    Um ihn herum war es dunkel. Er wollte sich mit der Hand über seine schweren Lider reiben, aber er konnte die Arme nicht bewegen. Hasso von Germershausen brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass seine linke Hand mit Handschellen an einem Treppengeländer befestigt war. Seine rechte Hand war an die Armlehne des Sessels gekettet, auf dem er saß. Ungläubig betrachtete er seine Fesseln.
    «Heh! Was soll das?»
    Wütend versuchte er, sich aufzurichten, aber die Handschellen ließen ihm keinen Spielraum.
    «Wer immer das war. Mach mich sofort frei!»
    Seine Stimme überschlug sich vor Empörung. Die Anstrengung ließ seinen hämmernden Kopfschmerz noch stärker werden. Unwillkürlich schloss er die Augen. Er zwang sich, ruhig zu atmen. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren.
    Plötzlich musste er an seinen Vater denken. Ernst von Germershausen hatte ihm beigebracht, dass Gefühle nie das Handeln oder die Entscheidung eines Menschen beeinflussen dürfen. «Wenn dir das gelingt, kann dir keiner mehr etwas anhaben.»
    Er hatte seinen Vater als Kind bewundert und gefürchtet zugleich. Als Jugendlicher war die Bewunderung irgendwann in Hass umgeschlagen. Ernst von Germershausen schien die Ablehnung seines Sohnes jedoch nicht zu stören. «Er wird sich auch im Leben durchkämpfen müssen», hatte er seinen Vater einmal zu seiner Mutter sagen hören. Die Mutter hatte vorsichtig protestiert und ihren Mann um mehr Nachsicht mit dem einzigen Sohn gebeten. Hasso sei doch noch ein Kind. Aber Ernst von Germershausen hatte sie herrisch zurechtgewiesen: «Deine Verzärtelungen bringen ihn nicht weiter. Er muss lernen, seine Gefühle im Griff zu haben.»
    Hasso von Germershausen hatte seine Lektion gelernt. Schon als Zweitklässler sah er verächtlich auf Mitschüler herab, die wegen irgendetwas in Tränen ausbrachen. Voller Scham beobachtete er Gleichaltrige, die sich zum Abschied von ihren Müttern umarmen ließen. Und je beherrschter er wurde, desto mehr spürte er die Anerkennung seines Vaters. Die emotionale Kälte hatte ihn hart werden lassen – hart und erfolgreich.
    Hasso von Germershausen öffnete wieder die Augen.
    Offensichtlich war er allein im Raum. Eine Chance, die er nutzen musste.
    Er taxierte erst das Treppengeländer, dann die Armlehne. Das Geländer schien aus Massivholz zu sein. Die Lehne war geschwungen und

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