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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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endlich legte, war die Landstraße leer. Nur ein paar bunte Haufen lagen auf der Fahrbahn und dem abgeernteten Feld.
    Hasso von Germershausen verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, um mehr zu erkennen. Aber schon tauchte eine neue Sequenz auf der Leinwand auf.
    Auf einem Melonenfeld lag eine Aluminiumdecke, die mit der Goldseite nach oben den Körper eines Menschen bedeckte. Nur die bloßen Füße und eine blutverschmierte Hand lugten heraus. Die Kamera machte einen Schwenk und filmte zwei Rettungssanitäter sowie einen Arzt, der am Boden neben einem halbwüchsigen Jungen hockte. Das Kind hatte Kopf- und Bauchverletzungen, aus denen es stark blutete. Drei schwerbewaffnete Bundeswehrsoldaten standen neben den Sanitätern, bereit, jederzeit zu schießen, falls sich jemand den Helfern nähern sollte.
    Verzweifelt presste der Arzt auf die Brust des Jungen, während ein Sanitäter mit einem Beatmungsbeutel Luft in seine Lungen drückte. «Gib nicht auf, gib nicht auf!», beschwor einer der Helfer den Verletzten auf Deutsch. Der zweite Sanitäter spritzte etwas in die Vene des Jungen. Die Kamera zoomte jetzt auf das kalkweiße Gesicht des Halbwüchsigen. Seine weit aufgerissenen Augen, die nichts verstanden, fixierten den blauen, sonnigen Himmel. Als die Kamera aus brutaler Nähe die klaffenden Wunden zeigte, schloss Hasso von Germershausen die Augen.
    Aber es gab kein Entrinnen.
    Hinter seinen geschlossenen Lidern merkte er, dass die Bilder weitergingen. Er musste hinsehen.
    Die nächste Szene zeigte einen Operationssaal. Einige Männer und eine Frau in grünen OP -Anzügen beugten sich über einen menschlichen Klumpen aus Blut und Fleisch. Ein Kinderfuß schaute unter der grünen Abdeckung auf dem OP -Tisch hervor. Der Ton war abgedreht, und die Stille hatte etwas Beängstigendes. Die Helfer drehten dem Filmenden den Rücken zu und schienen ihn nicht zu beachten. Nur eine Schwester schaute für einen kurzen Moment direkt in die Kamera. Hasso von Germershausen zuckte zusammen. Nie zuvor hatte er so einen leeren Blick gesehen. In den Augen der Frau schien alles erloschen. Kein Entsetzen, keine Traurigkeit, keine Wut – nur Leere.
    Dann wurde es wieder dunkel um ihn. Der Film war zu Ende.
    Endlich.
    Von Germershausen schaute nach oben. Die Schuhe standen nicht mehr auf dem obersten Treppenabsatz. Der Unbekannte war wieder ins Zimmer gegangen.
    «Los, zeig dich!», rief er. «Was willst du von mir? Geld? Dann komm runter, verdammt noch mal!»
    Hasso von Germershausen wollte souverän wirken, aber er bekam nicht mehr als ein Krächzen heraus. Wieder wurde es hell im Raum. Wieder sah er den Eselskarren und das alte Auto, das den Karren überholte. Die Schafe … die Staubwolke nach dem ohrenbetäubenden Knall … die merkwürdigen, bunten Haufen auf der löchrigen Straße … der Tote unter der Aluminiumdecke … das Kind auf dem OP -Tisch …
    Der zweite Durchlauf war fast noch schlimmer, weil er wusste, was gleich kommen würde. Er wollte sich die Ohren und die Augen zuhalten, aber seine gefesselten Hände boten keinen Schutz.
    Hasso von Germershausen kniff mit aller Kraft die Augen zusammen. Doch die Stimmen der Männer durchdrangen seinen Körper. «Gib nicht auf, gib nicht auf!»
    Dann war Ruhe.
    Hasso von Germershausen hatte nur wenige Sekunden Zeit, um Luft zu holen. Dann erhellten die Bilder erneut sein Gefängnis. Er blinzelte vorsichtig und erkannte die Männer, die ihre Schafe an einer Landstraße entlangtrieben. Sie hatten noch wenige Sekunden zu leben. Er sah, wie einer sich zu einem anderen umdrehte und lachte. Dann kam der Knall.
    Hasso von Germershausen bäumte sich auf. «Genug!»
    Angst kroch ihm kalt den Rücken hoch. Sein Hals war wie zugeschnürt.
    Dann wieder der OP -Tisch … der kleine Fuß, der unter der Decke hervorschaute …
    Unerbittlich, wie in einer Endlosschleife, lief der Film weiter.

[zur Inhaltsübersicht]
    42
    Steenhoff machte sich keine Mühe, das Dienstfahrzeug ordentlich zu parken. Mitten auf der Straße blieb er vor dem weißen Tor stehen. Ohne den Motor auszuschalten, sprang er aus dem Wagen und klingelte Sturm.
    Eine unsichere Frauenstimme meldete sich. «Ja, bitte?»
    Es kostete Steenhoff etwas Überredungskraft, bis die Haushälterin ihn und Petersen aufs Grundstück ließ.
    Zögernd öffnete ihnen eine ältere Dame die Tür. «Herr von Germershausen ist nicht im Haus. Ich bin die Haushälterin und –»
    «Wo ist er?», fragte Steenhoff ohne Umschweife.
    «Ich weiß

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