Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Haut abhob. Ich hatte auch langärmelige Oberteile eingepackt, aber Sam hatte sich für ein T-Shirt entschieden. Obgleich mir der Anblick der Narben zusetzte, fand ich Sams Entscheidung richtig. Jetzt, wo er die Symbole beherrschte, sollte er sie nicht länger verstecken müssen, als ob er sich für sie schämte, und schon gar nicht vor mir. Trotzdem musste ich blinzeln, um mich von der Magie des Bannspruchs lösen zu können. Nach wie vor zog er mich auf eine dunkle Weise an, die ich mir nicht erklären konnte.
Rufus’ abgetragenes T-Shirt mit dem Aufdruck des legendären New Yorker Rockclubs CBGB , das er im letzten Sommer jeden Tag angezogen hatte, saß beim breitschultrigen Sam etwas zu eng. Aber ich würde mich hüten, ein Wort darüber zu verlieren, denn mir gefiel das so ausgesprochen gut, auch wenn Sam sonst eher zu lässigen Klamotten neigte. Die aufgetragene Jeans meines Vaters hingegen passte ihm wie angegossen. Sam drehte sich noch einmal, was mir nur recht war. Dann bekam er wenigstens nicht mit, dass ich ihn mit den Augen auffraß. Wie immer war ich verblüfft über seine Anmut. Andere Jungen bestachen durch ihr gutes Aussehen, durch ihre sinnlichen Lippen oder scharf geschnittenen Gesichtszüge. Aber Sams Schönheit lag in seinem Ausdruck und in der Art, wie er sich bewegte. Als wäre sein Körper weniger als andere der Schwerkraft ausgeliefert.
»Haut es denn auch mit den Schuhen hin, die ich eingesteckt hatte?«
Sam zuckte verlegen mit den Schultern. »Doch, die passen schon. Es ist nur … ich fühle mich, ehrlich gesagt, etwas unwohl in Schuhen. Wer will schon laufen, wenn er fliegen kann?«
Ich lachte und als wäre diese Reaktion die Losung gewesen, kniete Sam sich endlich vor mich hin, umfasste mein Kinn und gab mir einen Begrüßungskuss. Ganz leicht, beinahe fragend, und damit so ganz und gar nicht Sam, der mit seiner unverfälschten Sinnlichkeit ja schon so manchen Schwindel bei mir ausgelöst hatte. Dann setzte er sich auch schon zurück auf die Fersen und musterte mich eindringlich. Nur seine Finger blieben auf meiner Schulter liegen und die Berührung fühlte sich unendlich viel intensiver an als die der Sonnenstrahlen.
»Du warst dir nicht sicher, ob ich heute kommen würde, richtig?« Ich wollte es ihm leichter machen.
Sam nickte. »Es hätte mich zumindest nicht überrascht. So richtig heimisch hast du dich in der Sphäre ja nicht gefühlt. Außerdem … auch wenn du stets geahnt hast, dass ich sozusagen ein Wesen von einem anderen Stern bin, so muss das letzte Nacht doch ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein. Ich hätte es anders angehen sollen, langsamer. Geduld ist offensichtlich nicht eine meiner größten Stärken.«
»Du hast alles richtig gemacht«, hielt ich voller Überzeugung dagegen. »Wie hättest du mir all das denn auch erklären sollen? Es war zwar eine vollkommen verrückte Erfahrung, aber damit komme ich viel besser zurecht, als wenn du ein Geheimnis daraus gemacht hättest, bis ich deiner Einschätzung nach reif genug für den Wechsel gewesen wäre. Es war verrückt, aber nicht gefährlich.«
»Da bin ich mir nicht mehr so sicher«, erwiderte Sam ernst. »Das Ganze ist vielleicht doch komplizierter, als ich zuerst angenommen habe.«
Dieser Meinungsumschwung gefiel mir gar nicht. Erst jetzt fiel mir die rote Stelle unter Sams sonnengebräunter Wange auf. »Was ist denn passiert?«
Statt einer Antwort kaute Sam nachdenklich auf seiner Unterlippe herum.
»Bist du gegen eine plötzlich auftauchende Wand gelaufen oder hat dir jemand einen Schlag ins Gesicht verpasst? Komm schon, Sam. Bitte verheimliche nichts vor mir.«
»Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Wenn ich es dir erzähle, wirst du wahrscheinlich kein weiteres Mal mit in die Sphäre kommen wollen - was vermutlich auch genau die richtige Entscheidung wäre. Das würde für mich jedoch bedeuten, zwei Leben führen zu müssen. Das wäre wie eine Zerreißprobe: du oder die Sphäre, ich könnte immer nur eins haben. Allein die Vorstellung macht mich vollkommen verrückt. Wenn ich mit dir in der Menschenwelt zusammen bin, vermisse ich die Sphäre, und wenn ich ohne dich in der Sphäre bin, fühle ich mich ebenfalls unvollständig. Bin ich ein Egoist, weil ich beides will?«
Langsam sanken meine Mundwinkel nach unten, obwohl ich bis eben noch geglaubt hatte, nie wieder mit dem Lächeln aufhören zu können. »Warum solltest du nicht beides zusammen haben können, wenn es von so großer
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