Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
nicht sofort abgestreift, weil Asami lieber sterben würde, als auf Macht zu verzichten. Macht bedeutet für ihn Schutz. Die ganze Sphäre ist ein Schutzschild für ihn. Du fügst diesem Schild mit deinem ganzen Ansinnen Risse zu. Die erneute Annäherung an die Menschenwelt, ausgelöst durch deinen Wechsel und dein Festhalten an beiden Welten, ist für ihn - und auch für einige andere - unerträglich. Und jetzt fangen auch schon andere Schattenschwingen an, ihren Weg in die Welt zu suchen. Asami wird alles daransetzen, dich aufzuhalten.«
In diesem Moment war ich froh, Shirins Hand zu halten. Nicht nur, weil der Gedanke an eine Auseinandersetzung mit Asami mir eine Heidenangst einjagte. Sondern auch, weil in der Sphäre plötzlich lauter Gefahren lauerten. Solange die Angelegenheit mit Asami und den anderen Bedenkenträgern unter den Schattenschwingen nicht geklärt war, würde ich Mila nicht wieder hierher mitnehmen können. Meine neue Heimat, in der ich mich unendlich wohlgefühlt und die für mich mehr als nur einen Neustart bedeutet hatte, war soeben zu einem gefährlichen Ort geworden. Meine Pläne, die eigentlich noch nicht mehr als Träume von einer perfekten Zukunft gewesen waren, brachen in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
»Das klingt so, als stünde ich auf verlorenem Posten. Was kann ich denn tun?«
»Normalerweise würde ich sagen, dass du Mila aufgeben oder endgültig in die Menschenwelt zurückkehren musst.« Kaum, dass Shirin diese Möglichkeiten genannt hatte, schlich sich ein Lächeln auf ihre ausgeprägten Züge. »Allerdings kenne ich dich mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass du Mila auf keinen Fall aufgeben wirst. Und dich an die Menschenwelt zu verlieren, wäre für uns einfach ein zu großer Verlust. Einmal davon abgesehen, dass du es dort wohl kaum aushalten würdest, nachdem du die Sphäre kennengelernt hast.«
Dieser Punkt leuchtete mir nicht ganz ein. »Vielleicht wäre die letzte Möglichkeit nicht die Schlechteste. Wenn Mila in der Sphäre gefährdet ist, dann sollte ich mir tatsächlich ein Leben drüben aufbauen. Warum auch nicht? Schließlich habe ich es achtzehn Jahre lang ertragen, keine Schattenschwinge zu sein.«
»Aber seit dem Wechsel bist du eine, es führt also kein Weg zurück, glaub mir.« Shirin sagte das aus tiefster Überzeugung. »Außerdem solltest du dir ein Leben mit Mila in der Menschenwelt nicht so einfach vorstellen. Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, weißt du: Diese Möglichkeit gibt es für dich nicht wirklich. Dein Leid, in einer Lüge leben zu müssen, würde euch beide zerstören.«
Mir war, als hätte jemand mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Hastig sprang ich auf und ging auf dem Vorplatz auf und ab. Mein Brustkorb war kurz vorm Zerspringen, als läge ich unten am Meeresboden und müsste dem Druck des Wassers standhalten. Qualvoll rang ich nach Luft, bis mir eine Idee kam, an die ich mich klammerte. »Und wenn Mila in der Sphäre leben würde?«
Die Frage gefiel Shirin nicht im Geringsten und sie machte keinen Versuch, es vor mir zu verbergen. »Mila ist ein Mensch.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage!« Das war mein einziger rettender Strohhalm und ich war nicht bereit, ihn ohne Weiteres aufzugeben. »Du hast angedeutet, dass früher Menschen in der Sphäre gelebt haben. Warum sollte Mila es dann nicht auch tun?«
»Ja, es haben Menschen in der Sphäre gelebt. Deshalb weiß ich ja auch so genau, dass sie nicht dafür geschaffen sind. Einmal davon abgesehen - was für ein Leben wäre das für Mila? Sie wäre die Einzige ihrer Art und uns in vielerlei Hinsicht unterlegen. Keine Schwingen, keine Gaben und nicht die gleiche Kraft wie wir. Sie wäre vollkommen abhängig von dir, ein leichtes Opfer für jeden, der ihr nicht wohlgesonnen ist. Außerdem würde sie ihre Familie und Freunde verlieren. Hast du auch nur einen Augenblick lang darüber nachgedacht?«
Vor Verzweiflung über diese unlösbare Situation schlug ich gegen das Mauerwerk der Ruine, woraufhin sich mit einem Knirschen die Steinquader bewegten. Verwirrt setzte ich einen Schritt zurück und betrachtete den Schaden, den ich mit der nackten geballten Faust angerichtet hatte. Mir war zwar bewusst gewesen, dass ich in den vergangenen Monaten kräftiger geworden war, aber kräftig genug, um ein massives Gemäuer einzudrücken? Nein, offenkundig wusste ich wirklich immer noch so gut wie nichts darüber, was es bedeutete, eine Schattenschwinge zu sein.
»Willst du meinen
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