Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Rat hören?« Während ich den Schaden anstarrte, trat Shirin vor mich hin und musterte mich voller Ernsthaftigkeit. »Wir sollten eine Versammlung einberufen, bevor Asami es tut. Du musst für deine Entscheidung, an der Menschenwelt festzuhalten, selbst eintreten.«
»Glaubst du wirklich, dass einer wie Asami seine Meinung ändert, wenn ich nur ausdauernd genug vor Zeugen auf ihn einrede?«
Shirin streckte den Nacken und sah mich eindringlich an. »Du wirst dich gegen Asami behaupten müssen - auf die eine oder andere Weise. Ganz gleich, wie das Ergebnis der Versammlung ausfallen mag, Asami unterwirft sich keiner Mehrheit, sondern nur einem Stärkeren.«
»Soll ich diesen Sturkopf etwa verprügeln, ist es das, worauf du hinauswillst? Also wirklich, wenn einer so alten Schattenschwinge wie Asami nur mit Gewalt beizukommen ist, dann ist er den ganzen Aufstand nicht wert.«
»Bei einer solchen Auseinandersetzung geht es doch nicht um schlichte Gewalt, sondern um die Stärke des Willens, um Überlegenheit«, sagte Shirin mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme. »Rein körperlich wärst du einem erfahrenen Krieger wie Asami unterlegen, aber wir Schattenschwingen kämpfen anders, als es die Menschen tun, weil unsere Fähigkeiten über die ihren hinausgehen. Begreifst du, worauf ich hinauswill?«
Mir lag auf der Zunge, ihr zu sagen, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wovon sie eigentlich sprach. Nur wollte mir diese Lüge nicht über die Lippen. Zwar begriff mein Verstand nicht, was Shirin meinte, aber jener Teil in mir, der nicht menschlich war, konnte ihr sehr gut folgen. Ich vertraute darauf, dass er im Zweifelsfall wusste, was zu tun war.
So viel hatte sich in den letzten Monaten verändert … Bislang hatte ich immer versucht, mich trotz der allgemeinen Aufmerksamkeit, die mir überall entgegengebracht wurde, zurückzuhalten, mich unsichtbar zu machen. Selbst in der Familie meiner Schwester hatte ich keinen wirklichen Platz eingenommen. Ich war bloß Gast gewesen, einer von der Sorte, der keine Scherereien verursacht und den auch keiner vermisst, wenn er erst mal weg ist. Aber seit dem Moment, als Mila meinen Blick erwidert hatte, hatte sich etwas verändert. Seitdem gab es etwas, für das es sich zu kämpfen lohnte. Deshalb würde ich mich Asami stellen.
»Gut.« Meine Stimme klang heiser in die Stille hinein. »Wir berufen eine Versammlung ein, und dann werden wir sehen, was passiert. Was denkst du, wie lange es dauern wird, allen Bescheid zu geben?«
»Nur einen Augenblick, Sam, wenn du es jetzt sofort tust.«
»Ich soll es tun?«
Der Ausdruck auf Shirins Gesicht war nicht mehr als ein feines Lächeln, aber es verbarg sich mehr dahinter - sie belächelte nicht nur meine Unbedarftheit. »Weißt du, was ich an dir so erstaunlich finde, Sam? Du tust seit Wochen die erstaunlichsten Dinge, aber eine unserer natürlichsten Fähigkeiten ist dir immer noch fremd. Vielleicht sollte ich froh darüber sein, dass du die innere Verbindung, die zwischen uns Schattenschwingen besteht, so gut wie nie nutzt. Wer weiß, was du ansonsten noch anstellen würdest, um Asami und die anderen alten Schwingen in den Wahnsinn zu treiben? Diese vornehme Zurückhaltung musst du jetzt allerdings ablegen. Nicht nur wegen Asami, sondern, weil du die Schattenschwingen rufen musst, selbst jene, die nicht gerufen werden wollen, weil sie sich zurückgezogen haben. Sag ihnen, sie sollen heute Abend zur Ruine kommen.«
»Gleich heute Abend? Ich bin mit Mila verabredet.«
Shirin erwiderte bloß meinen Blick. Wie sie so vor mir stand, konnte ich mir kaum vorstellen, jemals auch nur ansatzweise das Bedürfnis verspürt zu haben, ihr zu widersprechen.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Eine Nachricht an eine andere Schattenschwinge versenden - das war tatsächlich einfach, wenn man den Adressaten kannte. Ich hatte mich bereits mit Kastor auf diese Weise ausgetauscht, mich mit Shirin »angepingt«, und Ranuken, der dem Ganzen wenig abgewinnen konnte, geistige Kopfnüsse verpasst. Aber woher, verflucht noch mal, sollte ich wissen, wer sich dort draußen alles herumtrieb?
Obgleich es mir schwerfiel, schob ich meine Zweifel beiseite, sammelte mich und ließ jenen Teil von mir die Führung übernehmen, der meine Schwingen von schwarzen Tuschezeichnungen zu Flügeln werden ließ und mir die Pforte in die Sphäre geöffnet hatte. Etwas von mir stob davon, ein Teil meines Körpers, der jedoch nicht stofflicher Natur war - wie
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