Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
funktioniert. Wir haben, glaube ich, über ganz normale Dinge gesprochen: ob es Sinn macht, an der Schul-Verschönerungs-Aktion teilzunehmen, und in welchen Fächern wir gut sind und in welchen mies. Wenn ich mich nicht täusche, haben wir ziemlich oft gelacht und nicht einmal hat sich so ein unangenehmes Schweigen aufgetan.«
Lena nickte verständig. »Hat er versucht, sich mit dir zu verabreden? Oder ganz nebenbei von irgendeinem Kinofilm gesprochen, den er sich demnächst unbedingt ansehen muss? Einen, den du vielleicht auch sehen willst?«
Ich kramte in meiner Erinnerung, während sich der Zucker im Tee an meine Magenwände heftete und sie zusammenzog. »Nein«, brachte ich schließlich leise hervor. »Er meinte nur, dass er bis morgen mit seinem Bio-Kurs auf Exkursion sei. Ein richtiger Ausflug in die Wildnis, mit Zelten und allem drum und dran. Es sollte um … ich hab vergessen, worum es gehen sollte.« Mit einem Schlag fühlte ich mich elend. »Ist das jetzt ein schlechtes Zeichen?«, fragte ich Lena, die instinktiv nach meiner Hand griff.
»Nein, ganz bestimmt nicht. Ich denke, das ist sogar ganz gut so, nachdem Sam dermaßen in die Vollen gegangen ist. Knutschversuche beim ersten Date, o làlà.« Das war ironisch gemeint und somit typisch Lena. Damit wollte sie mir bloß wieder unter die Nase reiben, für was für ein Unschuldslämmchen sie mich hielt. »Wie ich Sam einschätze, wären seine Lippen eh nicht lange auf deinem Mund geblieben, sondern ganz fix auch woandershin gewandert. Der Junge weiß, was er will. Gut, dass dein Bruder dich gerettet hat, sonst müsste ich mir jetzt wahrscheinlich Geschichten über wilde Sachen anhören, die man auf einer Parkbank treiben kann. Das hast du übrigens alles deinem neuen Haarschnitt zu verdanken, wenn du mich fragst. Dadurch hat er dich das erste Mal als Frau und nicht als kleine Schwester wahrgenommen.«
Die Anspielung, dass Sam mich plötzlich als Frau sah, machte das mulmige Gefühl in meinem Bauch keineswegs besser. Sofort dachte ich an den Ausdruck auf seinem Gesicht, als ich so begeistert darauf reagiert hatte, dass er vielleicht in St. Martin zum Studieren bleiben würde. Leidenschaftlich, aber gleichzeitig auch sehr ernst, ohne eine Spur von Verspieltheit. Es verwirrte mich noch immer, dass er quasi von heute auf morgen als realer Junge in mein Leben getreten war, der sich nicht nur mit mir unterhielt und verabredete, sondern auch ein ziemlich eindeutiges Interesse an mir an den Tag legte. »Ich bin noch keine Frau«, antwortete ich Lena deshalb auch.
Leider vergaß Lena in diesem Moment ihre sensible Seite: »Ja, aber wenn Sam weiter so vorprescht, wird sich das schon sehr bald ändern. Allerspätestens bei eurem nächsten Treffen, würde ich mal tippen.« Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Tut mir leid, das war jetzt daneben. Du gehst nur alles, was Sam betrifft, mit so einem heiligen Ernst an. Das fordert manchmal den kleinen Teufel in mir heraus.«
Lenas spröder Humor hatte mir schon oft geholfen, Sam nicht bloß in einem alles überstrahlenden Licht zu sehen, sondern auch als Menschen. Aber jetzt brachten mich ihre Sprüche nicht weiter. Die Art, wie Sam mich angesehen hatte, hatte mir heiße Schauer über den ganzen Körper gejagt und mir gleichzeitig Angst gemacht. Nicht vor seiner Berührung, sondern vor der Intensität seines Verlangens. Da fühlte ich mich unterlegen. Ich fürchtete, wenn er die Beherrschung verlor, würde er über mich hinwegspülen wie eine Flutwelle.
»Sam war eben immer wie ein ferner Stern für mich, weit weg und wunderschön. Jahrelang war das wie ein Naturgesetz für mich. Und plötzlich - peng - ist alles anders. Ich steige überhaupt nicht mehr durch im Moment!«
Erschöpft ließ ich mich in den Sessel zurücksinken, froh darüber, dass er Lehnen hatte, auf die ich meine viel zu schweren Arme betten konnte. Lena hatte mir aufmerksam zugehört und ließ sich nun Zeit, bevor sie mir antwortete. Sie nahm einen Schluck von meinem Tee, weil ihrer mittlerweile ausgetrunken war, verzog wegen des Zuckergehalts das Gesicht und musterte mich ausführlich.
»Sagen wir es mal so: Es wäre doch ziemlich überraschend gewesen, wenn du den Übergang von Sam am fernen Himmel zu Sam, der neben dir auf der Gartenbank sitzt und dich küssen will, mühelos hinbekommen hättest. Ich denke, den meisten auf unserer Schule wird es nicht besser gehen, wenn er plötzlich mit dir als Freundin aufkreuzt.«
»Noch so ein
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