Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Unterhaltung eines Kaffeekränzchens missbrauche.« Da hatte meine Mutter dann doch schlucken müssen.
Allein schon wegen Rufus’ Unverschämtheit hätte ich eigentlich zuhören müssen, damit ich meiner Mutter das nächste Mal zur Seite stehen konnte. Aber das klappte heute einfach nicht, ich war mit den Gedanken komplett woanders. Sam hatte gestern Nachmittag versucht, mich zu erreichen, als ich gerade beim Handballtraining gewesen war. Mein Vater hatte den Anruf entgegengenommen und mir mit versteinerter Miene davon erzählt. Mein freudiges Aufjauchzen hatte seine Stimmung keineswegs gebessert. Irgendwie war es mir gerade noch rechtzeitig gelungen, mich auf mein Zimmer abzusetzen, bevor er dazu übergehen konnte, mir zu erzählen, was er von Sam hielt.
Sam hatte also angerufen, gleich nachdem er von der Bio-Exkursion zurückgekehrt war! Aber leider hatte er keine Nummer hinterlassen und Rufus war bereits ausgeschwirrt und hatte sein Handy ausgeschaltet, sodass ich ihn nicht fragen konnte. Vermutlich war mein Bruder gerade dabei, sich mit Julia zu versöhnen. Oder zumindest das zu tun, was sie beide darunter verstanden.
Alles in mir wartete sehnsüchtig auf die Mittagspause, in der ich Sam endlich wiedersehen würde. Bis ins Detail malte ich mir aus, was ich sagen und wie ich mich verhalten würde. Ihn in der Mensa zu treffen, war so viel besser, als ihm zum ersten Mal seit Sonntag bei der Nachhilfe im Gemeinschaftsraum gegenüberzustehen. Beim Essen waren so viele Leute unterwegs, da fiel es nicht weiter auf, wenn ich ihm zuwinkte und wir uns vielleicht sogar kurz miteinander unterhielten. Es wäre die perfekte Auflockerung vor der Nachhilfestunde am Nachmittag.
Doch zu meinem Unglück standen in Chemie, das wir in der letzten Vormittagsstunde hatten, Versuche zur Herstellung von Ammoniakwasser auf dem Lehrplan, und ich saß neben einer leicht überdrehten Lena, die sich selbst unterhielt, indem sie jede einzelne Versuchsphase kommentierte.
»Das Zeug stinkt wie die Pest«, sagte sie und hielt mir einen Behälter unter die Nase.
»Lass das bleiben, ich will heute auf keinen Fall mit etwas widerlich Riechendem in Berührung kommen«, drohte ich, doch da war es schon zu spät. Bei ihrem Versuch, das Ammoniakwasser wie eine irre Hexe im Behälter kreisen zu lassen, schwappte es über. Die meiste Flüssigkeit landete auf unseren Schürzen, aber ein paar Spritzer erwischten mein Top. Ich stürzte zum Waschbecken, während unser Lehrer Dr. Bryer einer plötzlich kleinmütigen Lena die Leviten las. Schließlich tauchten beide neben mir auf und als ich sah, wie Lena wegen des Gestanks die Nase rümpfte, wäre ich fast in Tränen ausgebrochen.
»Wir können ja einen T-Shirt-Tausch machen, dann bin ich es, die den Rest des Tages wie ein Katzenklo stinkend durch die Schule rennt«, schlug Lena vor. Aber ein Blick auf ihr neongrünes Tanktop, auf dem mit schwarzem Edding geschrieben »New York Bitch« draufstand, reichte mir vollauf. Ich rieb ein weiteres Mal versessen an meinem Top, dann gab ich auf.
»Solange die Spritzer nur auf dem Stoff gelandet sind, gibt es keinen Grund zur Beunruhigung. Der Geruch verfliegt wieder«, erklärte Dr. Bryer ungerührt.
»Das kann ich mir nicht vorstellen.« Ich hatte bereits meine Tasche geschultert und befand mich auf dem Weg zur Tür. Meine Wangen brannten vor Zorn über die Ungerechtigkeit, dass ich meine Mittagspause statt mit Sam auf dem Fahrrad verbringen würde, um mir zu Hause ein frisches Oberteil zu besorgen. In meinem Spind lagerten zwar Sportklamotten, aber ein olles Handballtrikot war nicht unbedingt das Kleidungsstück, in dem ich Sam gegenübertreten wollte.
Außer Atem erreichte ich nach meiner Umziehaktion den Gemeinschaftsraum zur Mathenachhilfe. Als ich eintrat, sah ich dort zu meiner Enttäuschung lediglich Bjarne mit den Roger-Zwillingen beisammensitzen. Bjarne gönnte mir ein knappes Nicken, bevor er wieder auf die Zwillinge einredete. Verlegen trat ich von einem Fuß auf den anderen, unschlüssig, was nun zu tun sei. Dann spürte ich plötzlich ein warmes Prickeln auf meiner Haut, und ohne mich umzudrehen wusste ich, dass Sam hinter mir stand.
»Hi«, sagte er leise. »Ich habe schon draußen im Schulgarten nachgesehen, ob du dich vielleicht zwischen den Bäumen versteckst und dein frisch gewaschenes Oberteil in der Sonne trocknen lässt.«
Das begann ja ganz wunderbar. »Du weißt von der Ammoniak-Attacke?«, fragte ich betreten.
»Deine Freundin mit
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