Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Punkt«, hakte ich ein. »Sam hatte doch noch nie eine feste Freundin. Bestenfalls Partyflirts, wie man so hört. Vielleicht bilde ich mir ja bloß ein, dass er Interesse an mir hat, weil ich überhaupt nicht klar denken kann in seiner Nähe.«
Lena machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du bist zwar ziemlich gut darin, alles Mögliche in die Dinge hineinzuinterpretieren, aber das bedeutet noch lange nicht, dass du dir da irgendetwas einbildest. Wenn du gespürt hast, dass Sam dich küssen wollte, dann wollte er das auch. Die entscheidende Frage ist aber: Was will er noch? Und was willst du?«
»Alles, was bisher mit Sam passiert ist, hat sich so gut und richtig angefühlt. Trotzdem würde ich ihn gern erst einmal besser kennenlernen, bevor es ernst wird mit uns. Wusstest du, dass er auch keine Pizza mag, die im Käse ertrinkt?«
Lena schüttelte den Kopf. »Nein, wusste ich nicht. Aber das sagt wirklich viel über seine Persönlichkeit aus. Damit hast du mich endgültig überzeugt, dass ihr als Paar für die Ewigkeit gemacht seid.«
Zuerst wollte ich beleidigt eine Schnute ziehen, doch dann stimmte ich in Lenas Lachen mit ein. Es war befreiend, die Angelegenheit nicht ganz so ernst zu nehmen. Danach gab Lena noch eine Runde Ingwertee aus und wir sprachen über tausend andere Sachen, ehe wir uns auf den Nachhauseweg machten. Draußen bei unseren Fahrrädern horchte ich einen Moment lang in mich hinein. Zwar war das nervöse Flattern, das sich in den letzten Tagen in meinem Magen breitgemacht hatte, noch da, aber damit konnte ich jetzt umgehen. Ich würde einfach meine Zeit brauchen, um aus dem Gefühlswirrwarr schlau zu werden.
Ich lehnte mich über den Sattel meines Fahrrads hinweg, schlang meine Arme um Lena und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke, du kleines Teufelchen.«
Automatisch versteifte sich Lena am ganzen Körper - sie kam mit zur Schau getragener Zuneigung nie sonderlich gut zurecht -, dann drückte sie mich kurz zurück. »Jederzeit wieder«, sagte sie und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.
7
Schattenspiele
In seinen Träumen schwebte er über dem tiefsten Meeresgrund, wie ein weit ausgebreitetes Fangnetz. Immer wieder verfing sich ein Schlafender in ihm, doch es gab so gut wie nie einen Grund, die Beute festzuhalten. Ohne jede Neugierde betrachtete er sie einen Moment lang, dann ließ er sie wieder zurück ins dunkle Wasser fallen. Diese träumenden Menschen konnten ihm keinen Weg in die Freiheit weisen, dazu brauchte es mehr. Eine Pforte, einen Riss in der Wirklichkeit, durch den er schlüpfen konnte. Sehnsüchtig dachte er an die Pforte, die zu erschaffen ihn so viel Kraft gekostet hatte. Zu seinem Entsetzen war sie unvollendet geblieben. Sie ähnelte einem feinen Schimmern, das durch die schwarzen Meeresfluten in die Tiefe zu ihm hinabdrang, um sogleich wieder von der Strömung davongetragen zu werden. Immer wieder tastete er nach dieser unpassierbaren Pforte, sich selbst für die unsinnige Hoffnung, dass jemand sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit öffnen würde, verachtend. Und doch … es fehlte doch nur so wenig, damit er durch sie hindurchströmen und die Macht wieder an sich reißen könnte.
Der Donnerstagvormittag zog sich zäh in die Länge. Unserem Geografielehrer Peter - er bestand darauf, geduzt zu werden - gelang es nur leidlich, meine Aufmerksamkeit zu erregen, obwohl es um das Thema »Natürliche Ressourcen in Afrika« ging, insbesondere um die Gründe, warum es diesem Kontinent so schwerfällt, seine Bodenschätze in Wohlstand zu verwandeln. Eigentlich hatte mich meine sozial engagierte Mutter für dieses Thema empfänglich gemacht. Oder vielmehr mein Bruder, der eine komplett andere Meinung vertrat und sich mit meiner Mutter regelrechte Wortduelle dazu lieferte.
»Das ist doch bloß Laberei«, hatte Rufus erst kürzlich die Rede meiner Mutter über das Machtgefüge in Somalia ausgebremst. »Alles schön zusammengelesen, aber nur weil man über etwas Bescheid weiß, trägt man noch lange nichts dazu bei, eine Situation zu ändern.«
Wenn meine Mutter dieser Schlag unter die Gürtellinie verletzte, so hatte sie sich zumindest nichts anmerken lassen. Schließlich plädierte sie stets dafür, dass jeder ein Recht auf seine eigene Meinung habe. »Du meinst also, dass du mit deinem offen kundgetanen Desinteresse der bessere Mensch bist?«
»Ja«, hatte Rufus ohne eine Miene zu verziehen geantwortet. »Weil ich die Armut anderer Leute nicht zur
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