Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
annehme und wir den Feiertag morgen gemeinsam am Strand verbringen? Die machen doch jedes Jahr einen halben Rummel auf, um den ersten Mai zu feiern. Zuckerwatte und das ganze andere Zeug, das man dort bekommen kann, gehen dann auf meine Rechnung.«
Er blickte auf und das Meeresleuchten seiner Augen nahm mich so gefangen, dass ich nur schwach nicken konnte. Dann fiel mir etwas ein. »Meine Familie wird vermutlich auch da sein.«
»Meinst du, die wollen auch ein Eis?«
Ich wollte schon ernsthaft darauf antworten, da bemerkte ich sein Grinsen und rollte leicht mit den Augen. »Vermutlich werden sie sich eher im Hafen aufhalten, mein Dad will nämlich etwas an der Wilden Vaart ausbessern. Das will er eigentlich immer, aber es ist auch die perfekte Ausrede für jemanden, der Rummel nicht ausstehen kann. Sicherlich wird er zusehen, dass er möglichst rasch aufs Wasser kommt, bevor meine Mutter ihn in Richtung Fressbuden und Karussell zerren kann.«
Sam hielt meinen Blick noch einen Moment gefangen und ich erwartete, dass er etwas Lustiges erwidern würde. Ich für meinen Teil hätte jedenfalls ewig mit dem Geplänkel weitermachen können. Er aber schloss für ein paar Sekunden die Augen, als müsse er sich sammeln. Als er seinen Ellbogen auf den Tisch stellte und den Unterarm anwinkelte, war das wunderbare Lächeln auf seinem Gesicht immer noch nicht verschwunden und brachte ihn zum Leuchten, sodass selbst der eher praktisch veranlagte Bjarne am anderen Ende des Raums aufblickte.
»Nachdem es letzte Woche so gut geklappt hat, machen wir jetzt weiter mit Mathe zum Angucken. Mein Arm ist also die Seite eines unbekannten Objekts, einverstanden?«
Ich blinzelte, in Gedanken immer noch ganz mit unserer Verabredung beschäftigt. Dann fiel mein Blick auf die Innenseite von Sams Unterarm. Der umgekrempelte Ärmel seines Hemdes war ein Stück nach oben gerutscht, sodass ein Teil des Narbengeflechts zum Vorschein gekommen war. Die Schnitte, die sein Vater ihm zugefügt hatte, mussten sehr tief gewesen sein, denn sie leuchteten immer noch grellrot auf, als wären sie gerade erst verheilt. Beinahe so, als könnten sie jeden Augenblick wieder aufreißen und zu bluten anfangen. Die eine Narbe war nicht mehr als ein vertikaler Bogen, aber die andere bildete ein Symbol. Drei Linien, ähnlich angeordnet wie bei einem A, wobei der Mittelbalken eher einen Kreis darstellte, was mit der Messerklinge wohl schwierig zu bewerkstelligen gewesen war. Obgleich ich das Symbol nicht kannte, spürte ich die Bedrohung, die es ausstrahlte. Es war nicht nur eine Brandmarkung, sondern mehr als das. Es war wie der Gegenpol zu Sams natürlichem Strahlen und fühlte sich an, als würde es mit seiner dunklen Aura auf mich übergreifen. Instinktiv lehnte ich mich im Stuhl zurück.
Sam, dem meine plötzliche Abwehrhaltung nicht entgangen war, zuckte sichtlich zusammen. Dann machte er Anstalten, den Ärmel runterzurollen, hielt aber inne. »Es ist nur eine Narbe«, sagte er mit fester Stimme. Doch das leichte Beben seiner Lippen entging mir nicht.
»Ja, eine Narbe … aber das Symbol macht mir Angst. Es wirkt so gegen deine Natur gerichtet.«
Sam zog die Stirn zusammen, als hätte er nicht mit einer solchen Antwort gerechnet. Wie hätte er das auch tun können? Ich konnte selbst kaum glauben, was ich da eben gesagt hatte. Dann hoben sich seine Mundwinkel, aber es wurde nur ein trauriges Lächeln. »Du hast einen anderen Blick auf die Welt als die meisten Menschen, Mila. Vielleicht macht dich die Malerei so sensibel.«
Ich saß da und ertrank fast in den vielfältigen Gefühlen, die auf mich einströmten, während Sam über Mathematik zu sprechen begann, als wäre es etwas, an dem man sich festhalten kann. Fakten gegen Mystik, Sachlichkeit gegen Zauberei. Ich versuchte, ihm auf diesem Weg zu folgen, doch es gelang mir nicht.
Mein Blick hing an dem Narbengeflecht fest, als hätte dieses sich in meine Netzhaut eingeätzt. Gegen meinen Willen rief es ein Bild hervor, das selbst Sams ruhige Erklärungen nicht zu bannen vermochten. Es drang in mein Innerstes ein, als wären die Symbole auf seinem Unterarm Schlüssel, die den Eingang zu einem dunklen, verborgenen Gang in mir geöffnet hatten. Was da jedoch zum Vorschein kam, verstörte mich zutiefst. Vor meinem inneren Auge baute sich eine Vision auf, von einer Klarheit, wie sie ansonsten nur meine Zeichnungen aufwiesen, bei deren Entstehung ich Zeit und Raum vergessen hatte. Nur, dass ich mich beim Zeichnen
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