Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
schlichten Geste, wie ich seine Einstellung fand, nämlich zum Kotzen, und ging dann schnurstracks ins Badezimmer. Von Menschen, die niedere Instinkte einer Liebesbeziehung vorzogen, hatte ich eindeutig genug. Rufus in seinem Elend tat mir kein bisschen leid, und dass Reza ihm gewiss den Kopf waschen würde, und zwar nicht nur wegen der Krankheiten, die man sich mit solchen Nummern locker einfangen konnte. Warum die harmonische Ehe meiner Eltern bei Rufus offensichtlich so gar keinen Eindruck hinterlassen hatte, war mir ein Rätsel. Aber keins, das ich sofort lösen musste. Heute würde ich mich mit einem viel verwirrenderen Rätsel auseinandersetzen: mit Sam.
Der Tag zog sich quälend in die Länge. Zwar versuchte mein Vater so unbefangen wie möglich mit mir umzugehen, nur machte es das nicht unbedingt leichter. Seine Gereiztheit ließ er stattdessen nämlich an Rufus aus, bis der wortlos das Werkzeug auf die Bootsplanken knallte und die Ewer verließ. Mein Halstuch trug er dabei sorgfältig um den Hals geschlungen, obwohl es ihm vor Rezas Argusaugen nicht viel gebracht hatte. Wie erwartet hatte es eine riesige Auseinandersetzung am Frühstückstisch gegeben.
Nach Rufus’ Abgang schwieg mein Vater, während Reza lesend am Bug saß und ich in meinem Vokabelheft herummalte, statt Latein zu lernen. Die gedrückte Stimmung an Bord und meine Aufregung vermischten sich zu einem Gebräu, das sich wie ein Betäubungsmittel auswirkte. Vielleicht war es auch besser, denn so konnte ich wenigstens nicht die Nerven verlieren. Als es auf fünf Uhr zuging, verschwand ich unter Deck, um mich umzuziehen.
»Ich geh jetzt zum Strand. Ich wünsche euch beiden noch viel Spaß.«
Doch so leicht entkam ich meinen Eltern nicht. »Lass dich mal anschauen«, sagte Reza und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Du siehst einfach umwerfend aus. Der Rock war eine Superidee. Eigentlich fast zu schade für einen schlichten Rummelbesuch.«
Mein Vater hingegen gönnte mir lediglich einen hastigen Blick, ehe er wieder zu hämmern begann. »Viel Spaß, aber komm keine Minute später als verabredet zum Denkmal. Sonst setze ich die Strandaufsicht auf euch an.«
»Daniel.« Rezas Ton war leise, aber bestimmt. Augenblicklich stand mein Vater auf und fuhr sich mit der Hand über den Bart, während er mich nun doch richtig anschaute. »Siehst hübsch aus, viel zu hübsch für diesen Kerl. Trotzdem hoffe ich, dass du eine schöne Zeit hast. Wenn nicht, breche ich Sam das Genick. Das kannst du ihm zur Motivation ausrichten.«
Meine Mutter schnappte vor Empörung nach Luft.
»Was denn?«, hielt Daniel dagegen. »Du wolltest doch, dass ich zu meinen Gefühlen stehe und trotzdem unser Mädchen unterstütze. Das mit der schönen Zeit habe ich ernst gemeint. Aber Punkt neun Uhr treffen wir dich am Denkmal, und keine Sekunde später. Sam gehört nur der Nachmittag, abends gehörst du wieder der Familie, wir schauen uns das Feuerwerk gemeinsam an - und zwar ohne dieses Mathegenie.«
Bevor mein Vater richtig dazu übergehen konnte, mir seine Gefühle in Bezug auf Sam zu offenbaren, sah ich zu, dass ich vom Schiff runterkam. Selbst als ich bereits den Kai entlangeilte, hörte ich noch die aufgebrachte Stimme meiner Mutter. Ihre beiden Männer machten es ihr heute wirklich nicht leicht.
11
Strandgut
Noch immer zehrte er von der Kraft, die ihm durch die Berührung des Mädchens zugeflossen war. Nun musste er sich allmählich entscheiden, ob er in diesem halb wachen Zustand, in dem er nicht mehr als ein paar lächerliche Träume beeinflussen konnte, verweilen wollte, oder ob er die ihm verbliebene Kraft für einen neuerlichen Angriff einsetzte. Die süße Macht des Schlafes begann wieder ihr Netz zu weben und früher oder später würde sie ihn erneut einfangen, ganz gleich, wie vorsichtig er mit seinen Kraftreserven umging. Außerdem hatte er schon immer zu denjenigen gehört, die alles auf eine Karte setzen. Den Zögerlichen gehörte schließlich nicht die Welt und er wollte deutlich mehr als das.
Der Plan war schnell gefasst: Dieser kaputte, vom Alkohol benebelte Verstand hatte sich schon einmal für seine Zwecke benutzen lassen. Warum nicht noch einmal auf diesen willigen Diener zurückgreifen? Vielleicht würde er seine Aufgabe ja dieses Mal bewältigen.
Sam
Rund um die Promenade und den Strand herrschte ernsthafte Überbevölkerung. Überall waren Menschen unterwegs: Familien mit überdrehten Kleinkindern, Rentnerpaare, die sich entweder ob des
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