Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
ansatzweise, dass sie mich abweisen könnte, so, als wäre schon alles geklärt. Als wären wir ein Paar, bevor wir uns überhaupt das erste Mal geküsst hatten.
Während sich diese Erkenntnis immer tiefer in mir verankerte, hob ich meinen Blick. Ich hatte den höchsten Punkt der Promenade erreicht, ab hier fiel der Weg leicht ab, bis er im Sand ausklang. Doch ich sah nicht auf das bunte Wirrwarr aus Menschen und Luftballons, sondern auf das Meer. Das Einzige, was mich fast genauso stark anzog wie Mila.
Mila
Ich brauchte mich nicht groß anzustrengen, um Sam am Strand auszumachen. Wie immer umgab ihn ein Licht, als wäre ein Scheinwerfer auf ihn ausgerichtet, nur, dass es heute noch heller als sonst leuchtete - wenn das überhaupt möglich war. Eine Gruppe junger Frauen sah ihm mit einer synchronen Drehung der Hälse nach. Die waren offensichtlich von außerhalb und an den Sam-Zauber noch nicht so gewöhnt wie die Mädchen an unserer Schule.
Ich verdrängte dieses übernatürliche Leuchten und versuchte stattdessen, mir in Ruhe den Jungen anzusehen, der sich suchend nach mir umschaute. Sams Haar war länger geworden und stand ihm strubbelig vom Kopf. Trotz der Entfernung glaubte ich die ersten ausgeblichenen Strähnen darin zu erkennen. Er trug ein blaues Baseballshirt, dessen Ärmel dreiviertel lang waren. Gerade lang genug, um die Narben zu bedecken, wie ich erleichtert feststellte. Die Furcht, die die Symbole auf seiner Haut bei mir ausgelöst hatten, saß mir immer noch in den Knochen. Außerdem hielt er den rechten Arm vor die Brust gepresst und stützte ihn mit dem linken. Um die Hand war ein Verband gewickelt, allerdings ganz bestimmt kein professioneller. Sam war alles andere als wehleidig. Wenn er seinen Arm so hielt, dass jeder erkennen konnte, dass damit etwas nicht stimmte, dann musste er ernsthafte Schmerzen haben. Ich würde mich ordentlich zusammenreißen müssen, damit ich ihn nicht dazu zu überreden versuchte, doch noch einen Arzt aufzusuchen.
In diesem Moment machte er mich ausfindig. Er legte den Kopf zur Seite und musterte mich, als wollte er sagen: Was geht dir bloß gerade durch den Kopf? Doch dann lächelte er und kam so schnell zu mir, wie die Menschenmenge und sein leichtes Humpeln es zuließen. Ich schnappte unwillkürlich nach Luft, als er so dicht vor mir stehen blieb, dass ich die smaragdfarbenen Sprenkel in seiner blau-grünen Iris tanzen sehen konnte. Ein Wellentanz. Ich kannte niemand anderen, dessen Augenfarbe so lebendig wirkte. Als würde man tatsächlich auf das bewegte Meer blicken.
Behutsam legte er mir eine Hand um den Nacken. »Na du.«
Instinktiv drängte ich mich näher an ihn, den verletzten Arm zwischen uns vergessend. Sam zuckte zusammen, wich aber nicht zurück.
»Das mit dem Fahrradunfall tut mir leid«, sagte ich und löste mich von ihm, obwohl sich selbst die geringe Distanz zwischen uns wie eine Bestrafung anfühlte.
Sam streichelte über meine Halslinie. »Sieht so aus, als müsstest du dich damit abfinden, dass ich immer wegen irgendwelcher Verletzungen zurückzucken werde, sobald du mich berührst.«
Das war überraschend direkt gewesen und ich brauchte einen Moment, um mich zu fangen. Ermutigt von dem Ausdruck auf seinem Gesicht erwiderte ich: »Solange dir meine Berührungen trotzdem gefallen.«
Sam neigte seine Stirn gegen meine und lachte dabei leise. Ein wunderschönes Lachen, das nur mir galt. Dann schaute er sich um. »Also, worauf hast du Lust?«
Worauf ich wirklich Lust hatte, behielt ich lieber für mich. Denn, so nah ich mich Sam fühlen mochte, es wäre bestimmt keine gute Idee gewesen vorzuschlagen, den Weg hoch zur Steilküste einzuschlagen und die Menschenmenge hinter uns zu lassen. Sam legte noch weniger Scheu als bei unseren letzten Treffen an den Tag, und nachdem sich meine anfängliche Zurückhaltung spätestens jetzt in Luft aufgelöst hatte, sehnte ich mich geradezu danach, dass er auch die letzte Grenze zwischen uns überwand. Das Bedürfnis, mit ihm zusammen zu sein, drohte meinen Verstand auszuschalten. Deshalb war es besser, wenn wir uns unter die Feiernden mischten. Hier am Strand würden wir lachen und uns unterhalten, hier gab es ausreichend Ablenkung, sodass wir der Anziehung, die sich zwischen uns aufbaute, nicht überhastet nachgeben würden.
»Ich sterbe vor Hunger. Bei uns auf dem Segelboot hat es heute nur Cracker und Rohkost gegeben, weil meine Mutter den Picknickkorb vergessen hatte.« Das entsprach nicht ganz der
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