Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
haben alle Zeit der Welt«, sagte er leise.
Als seine Finger über meine Wange streichelten, schmiegte ich mein Gesicht in seine Hand. Ich konnte ihm vertrauen. Nun musste ich nur noch mir selbst vertrauen, dass ich das Richtige tat, wenn ich mich mit meiner ganzen Seele auf Samuel einließ. Wie ein Warnzeichen blitzte das Symbol auf seinem Unterarm vor meinem inneren Auge auf, doch ich ignorierte es. Schließlich war es sein Vater gewesen, der ihm diese grauenerregenden Zeichen eingeritzt hatte. Wenn überhaupt, standen die Narben für Jonas Bristols Schlechtigkeit und sagten nicht das Geringste über Sam aus.
In diesem Moment versteifte sich Sam. Nicht nur seine Körperhaltung, sondern auch seine Gesichtszüge spannten sich an. Seine Finger schlossen sich hastig um die Narben auf seinem Arm, der auf seinem Schoß ruhte, als würden sie ihn plötzlich quälen. Mehr, als die Berührung des verletzten Ellbogens es tat.
»Was hast du?«, fragte ich erschrocken.
Als er nicht auf mich reagierte, folgte ich seinem Blick in die Menge, doch ich konnte niemanden Bekanntes ausmachen. Trotzdem gab ich nicht auf, denn Sams spürbare Beklemmung weckte eine Angst in mir, die ich zuvor noch nie verspürt hatte. In mir stieg neben der Furcht, dass Sam eine Gefahr drohte, auch eine Sorge auf, die viel schwerer zu erfassen war. Wenn Sam etwas zustoßen würde, würde ich das ertragen können? Dieser Gedanke war vollkommen überzogen, aber es fiel mir trotzdem schwer, ihn wieder abzuschütteln.
So plötzlich, wie Sams Anspannung eingetreten war, verschwand sie auch wieder. Zurück blieb nur ein flüchtiger Schatten. »Tut mir leid«, sagte er, bemüht, seiner Stimme einen unbefangenen Ton zu verleihen. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen. Aber ich habe mich wohl geirrt.«
Ich ahnte, dass dieser jemand Jonas Bristol war, aber ich behielt es für mich. Vermutlich hatte er sich wirklich geirrt, denn Jonas Bristol verließ angeblich nur äußerst ungern das Hafenviertel. Dass er sich auf einem Fest wie diesem wohlfühlen würde, hielt ich für ziemlich unwahrscheinlich.
»Was meinst du: Sollen wir am Wasser entlang spazieren gehen?«, fragte Sam mich und ich nickte.
Die Sonne stand bereits tief und färbte alles in ein weiches Gold. Auf der Bühne unten am Strand wurden die Boxen aufgedreht und eine Band begann Reggae-Stücke zu spielen. Während die Menge sich auf dem Plateau versammelte und sich zur entspannten Musik bewegte, schlenderten Sam und ich an der Wassernaht entlang. Vom Meer her wehte ein leichter Wind, die Wellen rollten gemächlich heran. Gelegentlich bückte ich mich nach einer Muschel oder einem Stück Glas, dem das Wasser die Kanten geschliffen hatte. Wir sprachen über alles Mögliche und dann waren wir wieder still und liefen einfach nur nebeneinander her. Der Weg am Strand entlang wurde allmählich einsamer und von der Musik war lediglich ein dumpfer Rhythmus zu hören. Die Ausläufer der Steilküste bauten sich immer gewaltiger vor uns auf und schließlich endete der Sandstrand in einem Felsgarten, der ins Meer überging. Gedankenverloren blickte ich auf das dunkle Wasser, das die Steinbrocken umleckte. Hierher kamen oft Leute aus unserer Schule, angelockt vom Nervenkitzel, den dieser steinerne Irrgarten auslöste. Sie suchten sich einen Weg zwischen den scharfen Kanten, schwammen ein Stück und erkundeten die halb vom Wasser gefluteten Höhlen unter der Steilküste. Ich kannte diese Höhlen nur vom Hörensagen. Kein Mensch würde mich jemals ins aufgewühlte Wasser bekommen, ganz gleich, wie faszinierend diese Höhlenwelt sein mochte.
»Bist du schon einmal dort hinausgeschwommen?«, fragte ich Sam, der dicht neben mir stand.
»Ja, hat schon was Geheimnisvolles. Aber eigentlich gefällt es mir dort oben am besten.« Mit dem linken Arm deutete er hinauf zur Steilküste, deren Grat ein Stück überhing und so den Eindruck machte, als könnte er jeden Augenblick abbrechen und ins Meer stürzen oder auf den aufragenden Felsen zerschellen. »Wenn ich dort oben stehe und unter mir das Meer rauscht, fühle ich mich lebendig, als wäre alles andere bloß ein Traum.«
Für einen Moment senkte Sam den Kopf, als müsse er erst mit sich ausmachen, ob er wirklich weitersprechen konnte. Behutsam rückte ich dicht an seine Seite und legte einen Arm um seine Taille, als wollte ich ihn wärmen. Sam blickte weiter auf das Wasser, aber sein Körper entspannte sich merklich.
»Mir kommt das Leben oft wie etwas vor,
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