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Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen

Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen

Titel: Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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verrückt erklärt, wenn ich ihr das anvertraut hätte.
    Außerdem hatte meine Mutter in den Tagen nach Sams Verschwinden wohl kaum die Kraft, sich mit meinen Ahnungen auseinanderzusetzen. Zwar war Rufus körperlich nichts Schlimmeres als die Platzwunde an der Stirn zugestoßen, doch seine Erinnerung an die Ereignisse oben auf der Steilküste setzte nur allmählich und bruchstückhaft wieder ein, und das machte ihm sehr zu schaffen.
    Sam und er hatten den späten Abend gemeinsam oben auf der Steilklippe verbracht, fernab vom allgemeinen Trubel. Sie hatten ein Lagerfeuer gemacht und geredet. Aber die meiste Zeit hatten sie einfach hinaus aufs dunkle Wasser geblickt. Es wäre alles ganz entspannt gewesen, hatte Rufus den Polizeibeamten erzählt und so war es später auch in unserm örtlichen Käseblatt zu lesen gewesen. Es hätte keinerlei Anzeichen gegeben, dass Sam irgendetwas beunruhigt hätte. Irgendwann musste Rufus eingedöst sein, denn er bemerkte Jonas Bristol erst, als Sam bereits aufgesprungen war. Er versuchte, seinen Vater zurückzudrängen, doch sein verletzter Arm machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Als Rufus ihm zu Hilfe eilen wollte, verpasste Bristol meinem Bruder einen solch brutalen Schlag ins Gesicht, dass er zu Boden ging. Als Rufus wieder zu sich kam, sah er das Messer in Bristols Hand aufblitzen. »Du bleibst, wo du bist«, schrie Bristol seinen Sohn aus Leibeskräften an und versuchte, dessen verletzten Arm zu greifen, doch der wehrte ihn ab. Als Sam den Arm ein weiteres Mal vorstreckte, um seinen Vater auf Distanz zu halten, holte dieser mit dem Messer aus und schlug ihm zwei Finger seiner linken Hand ab. Das Letzte, woran Rufus sich erinnern konnte, war sein eigener Schrei.
    All das hatte ich von meinen Eltern erfahren und in der Zeitung nachgelesen, denn in den ersten Tagen, nachdem die Polizei Rufus in die Mangel genommen hatte, wollte er niemanden sehen. Nur Reza durfte sich in seiner Nähe aufhalten, was Daniel bekümmerte, auch wenn er sich nichts anmerken ließ. Als Rufus sein Zimmer wieder verließ, sah er viel zu elend aus, als dass jemand von uns ihn bedrängt hätte. Ich weiß nicht, ob meine Eltern sich instinktiv richtig verhielten, oder ob sie einfach viel zu schockiert darüber waren, wie unvermittelt das Grauen über unsere Familie hereingebrochen war. Aber ich hatte das Gefühl, dass ihre ruhige und besonnene Art es uns Kindern leichter machte, als wenn sie uns ständig auf den Zahn gefühlt hätten. Sie vertrauten uns und wir vertrauten darauf, dass sie uns sofort helfen würden, wenn wir es wollten.
    Dass Rufus bei der Erinnerung an den Abend ausgerechnet das letzte, entscheidende Puzzlestück fehlte, trieb ihn in den Wahnsinn. Und nicht nur ihn, sondern auch die Polizei von St. Martin, die außer zwei abgeschlagenen Fingern, einem verstörten Zeugen und einem Tatverdächtigen, dem der Alkohol fast das Gehirn zerfressen hatte und der nur noch Unsinn von sich gab, nichts zu bieten hatte.
    Jonas Bristol war noch am selben Tag, als Sam spurlos verschwunden war, aufs Revier gebracht worden. Wie sich herausstellte, hatte er einige Tage zuvor seinen Job am Hafen verloren und seitdem nichts anderes getan, als zu trinken. Die meisten seiner Saufkumpane hatten ausgesagt, dass sie sich von Bristol ferngehalten hätten, weil er ihnen Angst gemacht hätte. Nicht etwa, weil er so aggressiv gewesen wäre - das war Bristol offenbar auch ansonsten stets -, sondern weil er solch wirres Zeug geredet hatte. Von sich auftuenden Pforten habe er geredet, die geschlossen werden mussten. Von der drohenden Flut, schwarz wie Pech, von der ihm ein Schatten, nein, der Schatten zugeflüstert hatte, in den Nächten, in denen Jonas’ Träume direkt in die Hölle führten. Niemand hatte recht verstanden, was der Mann eigentlich wollte. Es hatte wohl auch niemanden wirklich interessiert. Nun saß Jonas Bristol in Untersuchungshaft, im Verdacht, seinem Sohn nicht nur aufgelauert und ihn angegriffen zu haben, sondern dafür verantwortlich zu sein, dass dieser über die Klippe gestürzt war. Aus dem Mann selbst war kein vernünftiges Wort mehr herauszubringen.
    Für die Menschen in St. Martin passte es zu dem, was Rufus zu Protokoll gegeben hatte. Auch bei uns an der Schule gingen alle davon aus, dass Sam in den Tod gestürzt war. Was sonst? Ich ließ all das an mir abprallen, genau wie die mitleidigen oder neugierigen Blicke, mit denen mich einige Mitschüler verfolgten - weil ich Rufus’ Schwester

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