Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
sagte Nikolai allerdings nicht.
Als wäre ihm sämtlicher Lebenswille abhandengekommen, setzte er sich auf den Boden und begann, Grashalme auszureißen. Seine Schwingen lagen um ihn wie ein schützender Mantel. Sie waren fast weiß, aber eben auch nur fast. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Augen, obwohl da keine Tränen waren. »Geh ruhig zurück in die Menschenwelt, ich bleibe hier sitzen.«
»Das werde ich auch tun, sobald Kastor eingetroffen ist.«
»Du hast Kastor gerufen? Weiß er von dem Vorfall?« Nikolais Augen, die sowohl in der Menschenwelt als auch in der Sphäre aschefarben waren, weiteten sich vor Schrecken.
»Es wäre bestimmt keine gute Idee, dich allein zu lassen. Du brauchst jemanden an deiner Seite.« Nicht bloß, damit du keinen weiteren Schaden anrichten kannst, sondern auch, um dich vor dir selbst zu beschützen, dachte ich. Denn Nikolai stand die Schwermut überdeutlich auf die Stirn geschrieben. Sein Hoch war nur von kurzer Dauer gewesen. Dieser Junge brauchte Hilfe, so viel stand fest. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob Kastor oder eine andere Schattenschwinge diese Art von Hilfe geben konnten. In diesem Moment wirkte Nikolai ebenso zerbrechlich, wie er schön war.
Während wir auf Kastor warteten, versuchte ich vergeblich, so etwas wie einen Schlachtplan zu entwickeln. Zu viele Gedanken blockierten sich gegenseitig bei ihrem Versuch, zu mir vorzudringen. Nur ein Gedanke war da, der alle anderen verdrängte: Wie würde Mila reagieren? Mir war klar, dass vieles von Lenas Zustand abhing. Ausgerechnet Lena. Körperlich war sie gerade noch einmal so davongekommen, aber wie würde sie mit dem Erlebten umgehen? Ranuken würde die Situation nicht heilen können, er war auf mentalem Gebiet ein Versager. Ich wollte so schnell wie möglich zurück und zusehen, wie ich das Ganze zum Guten wenden konnte. Falls sie mit dem Erlebnis gar nicht umzugehen wusste, musste sie den Abend notfalls vergessen. Aber dazu musste ich rasch zu ihr, denn je länger das Geschehen her war, desto mehr würde ich ihr von ihrer Erinnerung rauben müssen.
Gerade als ich vor Ungeduld mit den Zähnen zu knirschen begann, landete Kastor auf dem Vorplatz. Tadelnd blickte er Nikolai an, der nicht einmal den Kopf hob. Dann wandte Kastor sich mir zu und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Er war unter seiner dunklen Haut ganz blass. In seinen Augen lag eine Unruhe, die mich verunsicherte.
»Entspann dich, mein Freund. Nikolai hat zwar ordentlich Unheil angerichtet, aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht, wenn ich mich sofort auf den Rückweg mache und Lena helfe«, beruhigte ich ihn.
»Es geht nicht um Nikolai, obwohl ich kaum glauben kann, was er angestellt hat. Nach einer so langen Zeit des Schlafes im Weißen Licht einfach in die Menschenwelt zu wechseln und dann auch noch seine Gabe an einem verstörten Mädchen anzuwenden! Wenn ich ihn nicht gut genug kennen würde, um zu wissen, dass er nur das Beste wollte, würde ich an seinem Verstand zweifeln, und an seinem Herzen noch dazu. Einmal davon abgesehen, dass er mir versprochen hatte, draußen auf dem Eiland zu bleiben, bis ich seine Wiederkehr auf der nächsten Versammlung bekannt gemacht habe.«
Kastor nahm sich einen Moment, um Nikolai einen Blick zuzuwerfen, der ihn eigentlich hätte in Flammen aufgehen lassen müssen. Doch der Junge reagierte nicht, was meine Sorge um seinen Zustand noch vergrößerte. Wenn es nicht einmal Kastor gelang, zu ihm durchzudringen, was oder wer konnte Nikolai dann den Halt bieten, nach dem er sich sehnte?
»Du hörst einfach nicht auf mich«, sagte Kastor leise, offenbar verletzt durch die Teilnahmslosigkeit seines Schützlings. »Es ist dir gleichgültig, was ich sage, aber so war es ja schon immer.«
Ich hakte nach. »Wenn es nicht wegen Nikolai ist, warum bist du dann so aufgebracht?«
Die Hände zu Fäusten geballt, drehte Kastor sich mir zu. »Du hast den Ruf der Versammlung doch gehört, oder?«
Oh, da kam jemand wirklich in Fahrt. Nikolai mochte gegen das Feuer, das Kastor versprühte, resistent sein, aber wer konnte schon sagen, ob das auch für mich galt? Vorsichtshalber
setzte ich einen Schritt zurück. »Gehört ja, aber nicht wirklich hingehört. Was ist denn los?«
»Das siehst du dir besser selber an.«
»Hallo? Die Bilder, die ich dir von Nikolais schief gegangener Hilfsaktion gesendet habe, sind schon angekommen, oder? Ich muss zu Mila, und zwar sofort.«
Kastors kräftige Finger zuckten. Er
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