Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
aufgebrachter Nikolai mit, als ich ihn unsanft vor der Ruine absetzte.
»Sehe ich genauso. Du hast dir und mir mit dieser Nummer eine Menge Ärger eingehandelt.« Ich musste mich zwingen, ihn loszulassen und sofort einen Schritt zurückzusetzen. Zu stark war das Verlangen, ihn durchzuschütteln oder gar zu schlagen. Daran änderte auch nichts, dass er unentwegt seine Unschuld beteuerte.
»Du musst mir glauben. Ich wollte diesem Mädchen helfen und dann hat es sich plötzlich verkehrt. Bitte, ich kann es nicht erklären.«
Das Nein lag mir bereits auf der Zunge. Dieser verlogene Mistkerl widerte mich an. Er hatte mein Vertrauen missbraucht und schlimmer noch: Er hatte Lenas Leben vor meinen Augen gefährdet und damit den Beweis erbracht, dass das Miteinander von Schattenschwingen und Menschen unabsehbare Gefahren barg. Diese Erkenntnis würde an Mila nicht spurlos vorbeigehen und auch ich konnte nicht ignorieren, dass mein Wechseln Konsequenzen mit sich brachte. Was bei den Wellenbrechern geschehen war, lag in meiner Verantwortung.
Ich sah mir Nikolai an. Ein Häufchen Elend. Nichts an ihm deutete darauf hin, dass er gerade eben noch durch seine Gabe Lenas Schock in ein so unerträgliches Maß gesteigert hatte, dass sie fast gestorben wäre.
»Bitte, ich begreife es selbst doch nicht.« Nikolai zitterte am ganzen Körper und schlang die Arme um sich, als wollte er sich wärmen. »Ich habe ihre Angst genommen und sie verkehrt. Es ist mir ein Rätsel, warum das plötzlich gekippt
ist. Geh in meine Erinnerung, ich lasse dich ein. Du wirst sehen, dass ich die Wahrheit sage.«
Das Angebot überraschte mich. »Gut, aber ich warne dich. Falls das wieder einer deiner dreckigen Tricks ist …«
Auf Nikolais aschfahlem Gesicht zeichneten sich hektische Flecken ab. »Dreckige Tricks … so bin ich nicht. Auch wenn ich nach dem, was sich gerade abgespielt hat, überhaupt nicht mehr weiß, wer ich eigentlich bin. Ich wünschte mir, Kastor hätte mich nicht aus dem Vernichteten Gebiet herausgeholt. Zuerst hat es sich schön angefühlt, wieder ein Ich zu haben. Wahrzunehmen, zu fühlen, zu erleben … Aber das ist es nicht. Es ist schrecklich.«
Obwohl ich mich dagegen wehrte, verspürte ich Mitleid mit ihm. Behutsamer, als ich es eben noch für möglich gehalten hätte, drang ich in Nikolais Erinnerung ein. Dabei beschämte es mich fast, welchen Spielraum er mir zugestand. Er hatte jeglichen Selbstschutz aufgegeben. Mit seinen Augen sah ich Feuer am nächtlichen Strand der Sphäre. Sie übten eine verführerische Wärme aus. Unter den Flammenzungen flirrten feinste Aschepartikel und gaben das Versprechen, dass dieses Feuer eine Pforte geöffnet hatte. Wann bist du das letzte Mal in der Menschenwelt gewesen?, fragte eine lockende Stimme in Nikolais Kopf. Dort waren Liebe und Wärme zu finden, wie die, die er in Samuels Aura gefunden hatte. Das Menschenmädchen, das Samuel so viel gab … genau das wünschte er sich doch auch. Dazu brauchte er nur die Pforte zu durchschreiten. Ja, dachte Nikolai, es ist so einfach. Nur war es dann doch nicht so einfach gewesen, wie die Stimme behauptet hatte. Es dauerte zwar, bis Nikolai vor lauter Faszination für Mila den angerichteten Schaden wirklich begriffen hatte, aber dann war er mit der festen Absicht an Lena herangetreten, alles wiedergutzumachen.
Dieser Part von Nikolais Erinnerung verstörte mich zutiefst. Ich spürte Lenas Furcht mit jeder Faser meines Körpers. Ihre Panik, den Verstand verloren zu haben. Die Überzeugung, in einem schrecklichen Traum festzustecken. Und am schlimmsten: das Aufleben alter Kindheitsängste, von einer Welt, in der alles möglich war. Einer Welt, die sie vollkommen überforderte. Nur waren all diese Schrecken nicht länger in Lena, sondern in Nikolai, der ihr stattdessen seine Wärme schenkte. Das machte er wirklich wunderbar, er half ihr, wie er es versprochen hatte, aber dann … Es kehrte sich einfach um, genau wie er gesagt hatte. Ohne dass er auch nur einen Moment etwas Böses gewollt hätte. Als hätte ein anderer sich seines Ichs bemächtigt.
Ratlos zog ich mich aus Nikolais Erinnerung zurück. »Da ist eine Leerstelle in deiner Erinnerung«, stellte ich mit belegter Stimme fest. Auch wenn er es mir leicht gemacht hatte, seine Erinnerung zu betrachten, war es mir unangenehm.
»Ein Teil von mir scheint immer noch im Weißen Licht zu stecken. Anders kann ich mir das Ganze nicht erklären. Es war ein Fehler …« Was genau ein Fehler war,
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